Ich verließ das Haus, ohne mich umzusehen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. War das gerade wirklich passiert? War das dort ein leibhaftiger Schatten gewesen? Diese und andere Fragen schwirrten durch meinen Kopf, der nicht fähig war klar zu denken.
Mein gesamter Körper vibrierte und ich fühlte mich so an, als ob ich jeden Moment in tausend Scherben zerspringen würde.
Die Sonne ging langsam auf. Am Horizont war eine dünne tieforangene Linie zu erkennen. Bald würde der Tag Einzug nehmen und es wäre, als wäre nichts passiert.
Ich schlang die Arme um meinen Körper, doch ich spürte immer noch die eisige Kälte. Ich konnte nicht bleiben und ich wusste nicht, wo ich hingehen konnte. Ohne Plan machte ich mich auf den Weg durch den Wald.
Das Moos war feucht und die Blätter der vorigen Jahre bedeckten den weichen, kühlen Waldboden. Die Bäume ragten hoch in den Himmel und das Blätterdach, das sie zusammen bildeten, bedeckte mich, hielt mich gefangen. Und auf einmal überkam mich ein Gefühl der Schwäche. Ich fühlte mich so klein und einsam. Dabei versuchte ich mir die ganze Zeit bewusst zu machen, dass auf den Bäumen die Vögel sangen und sich irgendwo im Dickicht ein Tier wie ein Reh oder ein Wildschwein versteckte. Einmal erkannte ich sogar einen Fuchs- oder Dachsbau, der noch nach dem Tier das ihn bewohnte roch. So einsam und schutzlos konnte ich also nicht sein.
Ich sprang über Äste und Brombeersträucher und gab Acht, dass mir Stacheln, Dornen und widerspenstige Verzweigungen mir nicht die Beine zerkratzten.
Da sah ich eine Lichtung. Sie war traumhaft schön. In diesem Moment war es für mich die Lichtung. Besonders wenn das Licht der aufgehenden Sonne sie erhellte und am Rand die Schatten der Blätter tanzten.
Als ich auf die Lichtung zuschritt musste ich lächeln. Es war ein trauriges, unbestimmtes Lächeln und ich wusste nicht warum ich es tat, aber es tat auf eine gewisse Art und Weise gut. Es nahm mir die Trauer, die mein Herz so schwer wie Blei zu erscheinen schien.
Als die Lichtung unmittelbar vor mir lag lehnte ich mich an einen Baum. Die Rinde war hart und rau, aber ich spürte sie kaum, weil die Lichtspiele meine Aufmerksamkeit fesselten. Es war schön das Licht als eine Art guten Traum darzustellen, da ich mit Schwärze gefüllt war. Dadurch bekam ich neue Hoffnung auf Leben. Mein Leben.
Je länger ich in das warme Sonnenlicht blickte, umso wärmer wurde mir. Ich trat hinaus auf die Lichtung. Die Sonne hatte das Gras schon ein wenig von dem Tau getrocknet, aber mein Nachthemd wurde trotzdem nass als ich mich hinsetzte.
Dann legte ich mich hin, schloss die Augen und genoss die Wärme auf meinem Körper. Sie vertrieb die Erinnerung
Wunderschön, dachte ich und sah in das gleißende Licht. Schnell schloss ich die Augen wieder.
Ich sog den Duft des Waldes ein.Ich schmeckte ihn auf meiner Zunge.
Ich spürte den Wald. Ich hörte ihn. Nur sehen wollte ich ihn nicht.
Es war tatsächlich ein guter Traum. Ein Traum der nie enden sollte – nie enden durfte.
Ich atmete tief ein. Es fühlte sich an, als wäre ich in Trance. Ich blendete den Schatten aus. Ich blendete aus, dass meine Familie tot war. Ich blendete alles aus. Außer die Schönheit des Waldes.
Wie leblos lag ich da und dachte über nichts nach. Das Leben konnte so sorglos sein. Es konnte so schön sein - so entspannend.
Ich fing an zu träumen. Es waren zwei Träume. Beide waren sie so wundervoll – perfekt sogar -, aber sie waren traurig und im Grunde waren es die schrecklichsten Alpträume, die ich je in meinem sechzehnjährigen Leben gehabt hatte.
Der erste begann hier im Wald. Ich stand auf und plötzlich raste ein Vogel auf mich zu. Er hatte rotes Gefieder, das so makellos glatt aussah. Sein Schnabel war silberfarben und perfekt geformt – wie im Märchen. Er gab einen Laut von sich, der aus allen Richtungen widerklang.
Ich starrte in seine schwarzen Augen, deren Ränder rot leuchteten - wie Feuer.
„Was willst du?", flüsterte ich und streckte die Hand nach dem Phönix aus. Eigentlich war ich mir nicht sicher, dass es ein Phönix war, doch als meine Hand vorsichtig über die samtweichen Federn strich war ich mir ganz sicher. Es gab so viele Geschichten über ihn.
In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie ein Nichts. Ich konnte nicht aus der Asche geboren werden. Ein Mensch wurde nicht aus Leblosem geschaffen. Der Mensch entstand aus dem Leben. Ich fühlte mich wertlos. Ich brauchte nicht mehr zu existieren. Ich konnte nicht wiedergeboren werden und die, die mir das Leben schenkten waren tot. Für immer fort.
Plötzlich kam mir in den Sinn mich zu ertränken, mich zu erdrosseln, Selbstmord zu begehen. Es war töricht, doch in diesem Traum bekam die Sache einen ganz anderen Anschein. Sie wirkte nicht mehr so brutal. Ganz im Gegenteil: Friedlich und würdevoll. Loyal meiner Familie gegenüber. Gerecht.
Bei diesem Gedanken löste sich das Bild auf und ich fand mich in meinem Zimmer wieder. Ich lag auf meinem Bett, meine Mutter deckte mich zu, gab mir einen Kuss auf die Stirn und wünschte eine gute Nacht. Sie löschte das Licht der Kerze und verließ den Raum. Im Bett neben mir hörte ich den ruhigen, gleichmäßigen Atem meines Brüderchens. Er war vor fünf Monden auf die Welt gekommen.
Ich drehte den Kopf in seine Richtung und flüsterte: „Wenigstens du kannst schlafen." Wieso sagte ich das? Es war so als wäre ich Zuschauerin bei einem perfekt nachgespielten Theaterstück.
Bei uns im Dorf war nur einmal eine Schauspielergilde gewesen und die hatten nicht annähernd so gut gespielt wie mein Traum. Der Traum war so sinnlos. So sinnlos wie ich.
Wenigstens war mir jetzt die Botschaft der Träume bewusst geworden.
Mein Körper wollte sich umbringen. Irgendwie.
Ich öffnete die Augen und fand mich auf der Lichtung wieder. Nur Träume, dachte ich doch ich konnte sie nicht einfach so wegschieben. Sie kamen mir immer wieder ins Gedächtnis.
Ich blieb noch viele Minuten auf dem Gras liegen. Die Sonne stieg immer höher und ich wusste, dass die Mittagszeit bald anbrach.
Mein Magen knurrte. Ich hatte nichts gefrühstückt. Und so war ich schon wieder bei dem Schatten angelangt. Selbst so eine verachtenswerte Kreatur hatte ein Leben. In Leben mit Sinn, ein Leben das ein genaues Ziel hatte.
Ich seufzte. Mein Körper war schwer wie Blei. Ich öffnete meinen Mund ein winziges bisschen. So war der einschläfernde Geruch der Natur nicht ganz so intensiv.
Mein Gesicht war angespannt, als ich aufstand. Mein Nacken schmerzte und meine Beine wollten mich nicht so recht tragen.
Ich seufzte und dabei entspannte ich mich leicht. Mein Schädel brummte immer noch von den Alpträumen, die mir klargemacht hatten was ich wollte – besser gesagt mein unbezwingbarer Geist.
Ich dachte viel zu viel nach. Ich dachte darüber nach was am nächsten Tag sein würde. Ich dachte über so viel Sinnloses nach. Das einzig Vernünftige davon war, ob der Schatten noch mehr Opfer getötet hatte oder ob das ganze restliche Dorf unversehrt war.
Ich verließ die Lichtung, als die Sonne schon von ihrem höchsten Stand gewichen war. Sie machte sich dazu bereit hinter dem Horizont zu versinken. In weniger als sechs Stunden würde die Nacht anfangen, das Tageslicht auszulöschen und die Schatten der Finsternis herbeizuzaubern. Ohne ein Licht war man im dunklen, dichten Wald verloren.
Und ausgerechnet ich hatte kein Licht. Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich weggegangen war. Plötzlich war meine Lebenslust wieder da. Ich spürte die Energie wieder in mir.
Aber ich irrte weiter.
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Dämonenschatten
FantasyAls Chiaras Eltern von einem Schatten getötet werden, flüchtet sie in den Wald. Dort trifft sie auf Ivo, der ausgestoßen von der Gemeinschaft der Waldgeister lebt, einer Gruppe von Menschen, die seit über einhundert Jahren abgeschnitten von der Zivi...