7. November 1885

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"Charlie, sieh dir das an!" Charles sah von seiner Zeitung hoch. Die Tür fiel ins Schloss und sein Kommilitone Thomas Bradford trat ein. „Ich sollte in Erwägung ziehen, dir den Schlüssel zu meiner Wohnung wieder abzunehmen.", sagte Charles und blätterte um. "Du dürftest selbst bemerkt haben, dass du der Einzige bist, der mir regelmäßig an Sonnabenden um acht Uhr in der Früh Überraschungsbesuche abstattet." Sein Besucher ließ sich elegant in einen Sessel fallen und warf seinen Hut zielsicher auf den nahe gelegenen Cafétisch. „Selbst wenn du das wirklich in Betracht ziehen würdest, so würde mich Mrs Davenport dennoch herein lassen. Sie ist von mir und meinem Charme jedes Mal hoch entzückt." „Zu Unrecht.", grunzte Charles.

Mrs Davenport war die Besitzerin des Hauses, das Charles bewohnte. Sie war eine reizende, kleine alte Dame. Vor ein paar Jahren war ihr Mann verstorben, ein Beamter, der ihr jedoch nicht viel hinterlassen hatte, darum vermietete sie das obere Stockwerk ihres Hauses an Studenten, wie Charles.

Als Untermieter hatte er sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen. Er war so ziemlich der sauberste, ruhigste und sittlichste junge Mann in ganz London. Ein Gentleman durch und durch. Sein Freund Thomas aber, war aufgeweckter und interessierte sich für jedes Gerücht, jeden Skandal, der bis zu seinen Ohren drang. In der wohlhabenden Londoner Gesellschaft hätte er mit dieser Vorliebe keinen besseren Platz einnehmen können.

„Diesmal habe ich dir aber wirklich etwas hochinteressantes zu bieten, mein guter Freund." Thomas grinste und zog einen gefalteten Zettel aus seiner Manteltasche. Er schüttelte ihn mit einer Hand auseinander und hielt ihn hoch. „Eine Sensation! Eine lebende Legende!", rief er. Charles ließ seine Zeitung sinken und sein Freund las, laut wie ein Marktschreier auf dem Borough Market in Southwark, was dort auf dem Zettel gedruckt war:

„Mr. Barnabys Kuriositätenkabinett hat eine neue Attraktion!

Von Morgens bis Abends, ab Montag, den neunten November!

Das hochverehrte Publikum wird seinen Augen nicht trauen,

bis es dieses leibhaftige, grandiose Wunder selbst gesehen hat!"

„Barnaby ist ein Aufschneider, das weißt du genau so gut wie ich.", unterbrach ihn Charles. Inzwischen hatte er sich von seinem Stuhl am Frühstückstisch erhoben und sich zu seinem Besucher begeben.

„Sei kein Spielverderber, Charlie!", rief Thomas und las weiter:

„Die einmalige Gelegenheit ein lebende Legende zu bestaunen! Die einzig wahre, wunderschöne...", er machte eine Pause und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „...Seejungfrau von Clifford!", rief er und warf seine Arme in die Höhe.

Charles sagte nichts. Er runzelte bloß die Stirn und ließ sich von seinem Freund den Zettel reichen. Dieser lehnte sich lässig in die Polster zurück. „Soll das etwa das Vieh sein, das dieser Klipper an der Sandbank vor Clifford aufgelesen hat?" Er schniefte. „Ich dachte,es hätte sich dabei bloß um eine gewöhnliche Halichoerus grypus gehandelt." „Au contraire, mein Freund!" Thomas sprang auf. „Du begleitest mich doch sicherlich am kommenden Montag. Wann hast du dir das letzte Mal etwas Spaß gegönnt, hm?" Charles versuchte eine desinteressierte Miene aufzusetzen. „Ich denke wir haben verschiedene Auffassungen davon,wie man sich vergnügt, Tom.", doch er konnte sich noch so  sträuben, nichts verhinderte, dass sich leichtes Lächeln auf seinem Gesicht kräuselte.

Seine größte Schwäche war, seinem Freund nie eine Bitte abschlagen zu können und natürlich wusste der um diesen Umstand. Seit sie gemeinsam als Knaben die höhere Schule besucht hatten, gab es nichts, was die beiden hätte trennen können. Nicht einmal der Umstand, dass ihre Charaktere unterschiedlicher nicht hätten sein können. Der eine war kühl und berechnend, der andere impulsiv. Was sie verband, war ihr Forscherdrang. Sie studierten beide Biologie an der University of London, wobei „Tom" meist gewagte Experimente durchführte und von den Vorlesungen nicht viel hielt. Er pflegte oft zu sagen: „Diese alten, sturen Großväterchen sollten erst einmal ein paar neue Veröffentlichungen lesen, bevor sie mir etwas beibringen wollen." „Charlie" hingegen kannte keine schönere Beschäftigung auf der Welt, als im stillen Kämmerlein zu sitzen und sämtliche Nachschlagewerke auswendig zu lernen.

Merle oder Mein Heim ist das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt