4. Dezember 1885

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"Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom

Von fernen Inseln, wo er geerntet hat;

Wohl möchte auch ich zur Heimat wieder;

Aber was hab ich, wie Leid geerntet?"

Ein lautes Quietschen ließ sie aufschrecken. Ruckartig fuhr sie hoch und wandte sich zu dem kleinen, unscheinbaren Hintereingang der Lagerhalle. Langsam und vorsichtig wurde die Tür aufgeschoben, bis sie im diffusen Zwielicht eine dunkle Gestalt ausmachen konnte. Mit gebeugtem Rücken zog sie einen kleinen Gegenstand aus dem Schloss der Tür und blickte ein letztes Mal hinter sich auf den nebelverhangenen Hafen zurück, trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. 

Sie hörte Schritte über den Boden kratzen und wich unweigerlich zurück. Auch wenn sie in einem massiven Gefängnis steckte, musste sie sich nicht auch noch wie auf einem Silbertablett präsentieren. Sich im Ernstfall effektiv zu wehren würde schwer fallen. Die schier endlose Zeit an Land hatte sie enorm geschwächt und Spuren hinterlassen. Es war besser auf der Hut zu sein. Sie lauschte angespannt den raschen Atemzügen des Eindringlings. Kurz und flach, angespannt und erschöpft. Anscheinend hatte dieser jemand sich sehr beeilt herzukommen. Endlich trat die Gestalt ins Dämmerlicht, das durch die Dachfenster herein fiel. 

Es war Charles. 

Mittlerweile hatte sie in Erfahrung bringen können, wie sein Name lautete, schließlich war er Teil der Gruppe, die sie Tag für Tag aufsuchte um sie zu untersuchen. Er trug eine nicht entzündete Petroleumlampe unter dem Arm und ein Schlüsselbund in der Hand. Seine grünen Augen leuchteten vor Aufregung und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, als er näher zu ihr trat.

"Verzeih mir, falls ich dich erschreckt haben sollte.", sagte, beziehungsweise, keuchte er und stellte die Lampe neben sich auf dem Boden ab. Er schien ziemlich außer Atem zu sein. "Es hat mittlerweile in der Stadt die Runde gemacht, dass wir dich hierher brachten. Glücklicherweise ist mein guter Freund Thomas schrecklich schlecht darin Geheimnisse für sich zu bewahren. Er ist zwar ein heller Kopf, aber leider auch eine unverbesserliche Tratschtante." 

Worauf wollte er bloß hinaus?

"Wie auch immer...", fuhr er fort und spielte ein wenig nervös mit den Schlüsseln herum. "Ich habe beschlossen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um dich endlich hier heraus zu holen. Deswegen habe ich versucht mich hier unbemerkt hereinzumogeln." Er klimperte er mit dem Schlüsselbund in seiner Hand. "Das hier sind Dietriche. Damit kann man auch ohne die richtigen Schlüssel Türen öffnen, ohne sie zu beschädigen." 

Sie zog ihre Augenbrauen hoch. Sie traute ihm vieles zu, aber nicht den Besitz von Einbruchswerkzeug. Dafür wirkte er zu brav und rational.

Er schien ihre Miene richtig zu deuten, denn er fügte hinzu: "Als Junge hatte ich eine Faszination für Taschenspielertricks und Illusionisten. Ich brachte mir selbst einige ihrer Kniffe bei, so auch das Schlösserknacken."

Sein Blick wanderte abwesend durch den Raum. Man hatte provisorisch eine große Holzwanne in der Hallenmitte aufgestellt, nicht viel größer als Barnabys Glasgefängnis, aber immerhin hatte man auf eine massive Holzplanke als Abdeckung verzichtet. Stattdessen lag ein ein Gitter in Form einer Halbkugel über der Wanne. An den Wänden standen endlose Reihen von Tischen, die unter dem Gewicht unzähliger Bücher, Notizen und chemischer Apparaturen ächzten. In aller Eile hatte Professor Presley, unter dessen Verantwortung das neue "Studienobjekt" fiel, scheinbar wahllos Material aus der Fakultät angehäuft und zu dieser Lagerhalle am Hafen bringen lassen. Eigentlich sollte so verhindert werden, dass neugierige Außenstehende von dem momentanen Aufenthaltsort der Seejungfrau Wind bekamen. Allerdings war eine Horde Studenten, die Tag für Tag über das Hafengelände, zu immer der gleichen Lagerhalle liefen alles mögliche, nur nicht unauffällig.

"Du sitzt schon viel zu lange hier fest, findest du nicht auch?" 

Wie lange ist eine gefühlte Ewigkeit? 

"Mal sehen...", murmelte Charles während er das Gitter untersuchte. "Das könnte schwieriger werden als gedacht. Diese Kuppel ist massiv. Keine schwachen Schweißnähte, keine beabsichtigten Öffnungen oder Türen, und die Löcher sind gerade groß genug um meinen Arm hindurch zu stecken." Als Demonstration krempelte er sich den Hemdsärmel hoch und schob seinen Arm bis zur Schulter durch einen der Zwischenräume der Gitterstäbe, dann griff er nach einem der waagerecht liegenden Gitterstäbe darüber. Er rüttelte daran und schickte sich an es ein Stück anzuheben, gab aber sofort wieder auf. "Zu schwer für einen allein.", stellte er fest und zog seinen Arm wieder heraus.

Für einen allein... Auf einmal schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Sie krabbelte auf allen Vieren zu ihm ans Gitter und richtete sich auf ihren Knien auf. Schnell knotete sie ihr langes Haar zusammen, sodass keine nasse Strähne ihr mehr störend im Gesicht oder an den Armen klebte. 

Nun griff sie mit beiden Händen die unterste Seite des Gitters und atmete tief ein. Mit all ihrer restlichen Kraft stemmte sie das Gitter langsam aber sicher immer weiter nach oben. Sie schnaubte vor Anstrengung und warf Charles einen auffordernden Blick zu. Der verstand sofort und griff ebenfalls nach dem Gitter. Seine selten beanspruchten Armmuskeln durchfuhr ein schneller, stechender Schmerz. Anders als das Mädchen war er schmal gebaut, allerdings von beachtlicher Größe. Sie dagegen war klein und zierlich, aber gleichzeitig muskulös. Gemeinsam hoben sie das Gitter so hoch, dass sie schließlich ihr Bein über den Rand der Holzwanne heben und sich unter dem Gitter hindurch schieben konnte. Charles ächzte unter dem Gewicht des massiven Eisengeflechts, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Endlich hatte sich das kleine Geschöpf unter dem Gitter hindurch gezwengt und war auf der anderen Seite auf den kalten Beton geplumst. Charles Arme gaben nach und beinahe hätte er das Gitter lautstark fallen gelassen, doch im letzten Moment fing er sich und setzte es sicher wieder auf den Rand der Wanne ab. 

"Ich hätte nicht erwartet, dass noch solche Kräfte in dir stecken.", keuchte er anerkennend. "Schließlich wurdest du nie gut behandelt, seit dich die Menschen das erste Mal entdeckt haben." Sie schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. 

Er wusste gar nichts, wie auch...?

"Hier." Er kniete sich neben sie und legte ihr ein weißes, mit blauen Blüten besticktes Tuch um die Schultern. "Es ist kalt draußen." Sie spürte wie seine große, warme Hand ihren Oberarm entlang über den Stoff strich. Eine Gänsehaut kräuselte sich ihren Rücken herauf. 

"Verschwinden wir hier."

Merle oder Mein Heim ist das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt