9. November 1885

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An diesem Tage hatte sich der Himmel über London bereits am späten Nachmittag tintenblau gefärbt, die letzten Sonnenstrahlen sich hinter dem endlosen Meer aus Dächern verabschiedet. Dichter Nebel waberte durch die Straßen, in denen nach und nach die Laternen an den Häuserfassaden entzündet wurden.

Big Ben, die größte Glocke im Clock Tower des Palace of Westminster schlug gerade 17:00 Uhr, als Charles aus seiner Haustür trat. Das Hausmädchen Anna, ein unscheinbares junges Ding mit mausgrauem Haar, reichte ihm seine Handschuhe und seinen Spazierstock. „Kann ich noch etwas für sie tun, Sir?" „Nein, danke. Ich mache mich sofort auf den Weg. Gehe aber sicher, dass du die Tür gut verschließt, auch den Dienstboteneingang. Ich kehre vermutlich erst am späten Abend zurück." „Sehr wohl, Sir. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Abend." Sie schloss die Tür und Charles hörte das Klacken des Schlossmechanismus. Er stieg die steinernen Stufen hinunter und schritt zielstrebig den Bürgersteig entlang. In genau, er blickte auf seine Taschenuhr, dreizehn Minuten, war er mit Thomas am Piccadilly Circus verabredet, um anschließend Barnabys Kuriositätenkabinett einen Besuch abzustatten. Während er schnellen Schrittes durch die Gassen ging, rief er sich noch einmal sämtliche Informationen in Erinnerung, die er über das Geschöpf, das sich in Barnabys Besitz befand, bereits erfahren hatte.

Am Abend des 27. Oktober diesen Jahres, hatte ein Klipper auf der Rückfahrt von Britisch-Westafrika nach London an der Küste bei Clifford, einem unbedeutenden, kleinen Hafenstädtchen, ein tückische Sandbank, am Rande einer Felsformation überwinden müssen. Dabei sei auf der Sandbank nahe dem Schiff ein Meermädchen aus dem Wasser aufgetaucht. Vollkommen unbekleidet habe sie im Wasser mit einem übersinnlichen Gesang die Aufmerksamkeit der Mannschaft auf sich gezogen. Der Kapitän ließ das Meermädchen, gegen den Willen vieler seiner Männer, einfangen und im Hafen von London an den meist bietenden, für eine horrende Summe, verkaufen. Barnaby hatte sie angeblich dort erstanden. Doch schon in der Nacht nach dem Fang der Seejungfrau, sei das Schiff in einen schrecklichen Sturm geraten. Zwar hätten alle Matrosen an Bord den Sturm heil überstanden, doch ihre Gefangene habe in ihrem Käfig die ganze Zeit, als die Wellen über dem Deck zerschlugen, teuflisch gelacht und einen Matrosen tödlich verletzt.

Diese Geschichte war so absurd, sie hatte Charles nicht einmal einen hämischen Schmunzler abgewinnen können. Seemannsgarn, wie es im Buche steht.

Außerdem waren die einzigen Quellen, die sich ausführlich dieser „Schlagzeile zur Ausbeutung armer Leichtgläubiger", wie Charles es formulierte, widmeten, Boulevardblätter gewesen. Bekanntlich waren diese hinter Meldungen mit solcher Brisanz her, wie der Teufel hinter einer armen Seele.

Die Nase rümpfend bog Charles um eine Häuserecke. Das Kopfsteinpflaster knirschte unter seinen blank polierten Schuhen. Vermutlich ist es nichts weiter als eine mutierte Halichoerus grypus, vielleicht auch eine verirrte Pusa hispida, die mittels einer Strömung ihren Weg auf die Sandbank gefunden hatte. All diese Erklärungen sind logischer als die, man habe eine Seejungfrau entdeckt.

Am Picadilly Circus ließ Thomas nicht lange auf sich warten. Fröhlich schüttelte er Charles die Hand und gemeinsam bestiegen sie eine der Mietkutschen am Rand der Kreuzung. Als sie dem Kutscher ihr angestrebtes Ziel mitteilten, riss dieser weit die Augen auf. „Dann wollen die Herren sich ebenfalls die Meerjungfrau ansehen, nehme ich an?" „Oh ja!", schmunzelte Thomas. „Die Sache ist nicht geheuer sage ich ihnen! Dieses Geschöpf ist nicht nur echt, es ist lebensgefährlich!" „Inwiefern lebensgefährlich?" „Nun ja...", der Kutscher beugte sich zu den beiden hinab. „Ich habe in einer Kneipe den Matrosen getroffen, den diese Kreatur angegriffen hat. Grauenhaft sage ich ihnen! Sein ganzes ist Gesicht auf die grausigste Weise entstellt und er hat sie nicht einmal in irgendeiner Weise provoziert oder der Gleichen. Sie ist aggressiv und blutrünstig!" „Vielen Dank, das genügt." Charles packte Thomas am Kragen und schob ihn mit sanfter Gewalt in die Kutsche.Thomas Augen hatten bei der Warnung des Kutschers ihren typischen neugierigen Glanz angenommen. „Fahren sie uns einfach an unser gewünschtes Ziel. Ob diese Kreatur tatsächlich so grauenhaft ist, finden wir schon selbst heraus.", sagte Charles, um ein höfliches Lächeln bemüht. „Lassen sie sich nicht von ihrem Äußeren täuschen. Sie soll so schön sein, wie man es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kann." Verträumt ließ der Mann den Blick gen Himmel schweifen. „Am besten wir machen uns selbst ein Bild der Lage.", gab Charles trocken zurück und schloss die Tür der Kutsche.

Merle oder Mein Heim ist das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt