5. Dezember 1885

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Zehn...Elf...Zwölf Mal schlug Big Bens hallender Ton durch die Straßen der Stadt.

Mitternacht.

Zwei Police Constables drehten ihre übliche Runde über das Hafengelände und leuchteten hier und da mit einer Taschenlampe in die Winkel und Gassen zwischen Lagerhallen, Kistenstapeln und Verwaltungsgebäuden. 

Sie bemerkten jedoch nicht, die zwei Gestalten, die sich nur wenige Meter neben ihnen hinter einem Stapel morschem Holz vor ihnen versteckten. Charles hatte die Seejungfrau, die nicht im Stande war zu laufen, in seine Arme geschlossen und buchstäblich auf Händen nach draußen getragen. Er atmete kaum, als er den Schritten der beiden Polizisten lauschte. Dabei drückte er das Mädchen in seinen Armen fest an seine Brust, sodass er ihren schnellen Herzschlag spüren konnte, der flatterhaft, wie ein kleiner Vogel, mit seinem um die meisten Schläge konkurrierte. Das Meermädchen schmiegte sich eng an ihn und ihr weiches Haar kitzelte seinen Hals und sein Kinn. Sie lauschte dabei genauso angestrengt, wie er. 

Adrenalin und Glücksgefühle durchströmten ihn. Nie hatte er einen Menschen so nah an sich gelassen, geschweige denn eine Frau.

Die Stimmen der Männer entfernten sich und sie atmeten auf. Jetzt galt es den Weg zu dem abgelegenen Pier wieder zu finden, den Charles als den perfekten Ort auserkoren hatte, um das Geschöpf in seine Armen wieder in die freie Wildbahn zu entlassen. Als er sicher war niemand würde sie beobachten, huschte er weiter hinter ein ausgemustertes Rettungsboot, dann weiter durch einen schmalen Pfad zwischen einem Maschendrahtzaun und einem Kühlhaus. In dieser Manier arbeiteten sie sich Stück für Stück vor, immer auf der Hut vor möglichen Zeugen. Leider beanspruchte diese Technik enorm viel wertvolle Zeit. Bald würde das Hafengelände wieder vor Arbeitern, Matrosen und auch zwielichtigen Gestalten wimmeln. Bei einem, mit einer großen mit einer Plane abgedeckten, Stapel Ziegeln musste Charles eine kurze Verschnaufpause einlegen. Nachdem er das Meermädchen sachte auf dem Boden abgesetzt hatte lehnte er sich schwer atmend gegen den Ziegelberg und glitt daran auf den nassen Boden herab. Verdutzt stellte er fest, dass dieser mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt war und blickte gen Himmel. Dichte Flocken fielen aus der Dunkelheit auf die Stadt herab und deckten die Häuser wie mit einem weißen Tischtuch zu. Er wandte sich dem Geschöpf neben ihm zu, die sich gerade das geblümte Handtuch noch enger über ihre entblößte Brust. 

Gut, dass niemand seinen hochroten Kopf in der Dunkelheit bemerken würde.

Schon bald hatte sein Körper wieder Kraft gesammelt und das ungleiche Paar setzte seine Flucht durch die Dunkelheit fort. Der Schnee weichte Charles Mantel auf und die Eiseskälte drang vor bis zu seiner Haut. Auf jedes kleinste Geräusch reagierte er heftig und angespannt, seine Glieder wurden langsam taub vor Kälte und Anstrengung. Trotzdem rannte er ausdauernd weiter von Deckung zu Deckung. Seine felsenfeste Überzeugung das Richtige zu tun gab ihm das Gefühl Berge versetzen zu können. Das Mädchen brauchte ihn, und hatte er je jemandem die Hilfe verweigert, der sie dringender als alles andere brauchte? Das lies seine Gentleman-Ehre nicht zu.

Endlich kamen sie an dem verlassenen Pier an, den er vor ein paar Tagen ausgekundschaftet hatte. 

Vorsichtig setzte er die Seejungfrau auf den Rand der Kaimauer ab. Die Treppe, die an ihr herunter zum Wasser führte, war rutschig vom Schnee und an einigen Stellen quoll Moos aus den Fugen zwischen dem massiven, schwarzen Stein hervor. Wenn er sich nicht den Hals brechen wollte, blieb er lieber oben auf der Kaimauer stehen. 

Noch einmal prüfte er so gut es bei der Dunkelheit und dem aufziehenden Schneegestöber eben ging, ob sie allein waren. Keine Menschenseele ließ sich an der selten genutzten Anlegestelle blicken. Gerade als er sich mit pochendem Herzen dem Mädchen zuwenden wollte, musste er plötzlich mit ansehen wie sie sich mit den Füßen, oder besser Flossen, von der Mauer abstieß und kopfüber in das tiefschwarze Wasser unter ihm sprang. Das Tuch, dass er ihr gegeben hatte ließ sie dabei hinter sich flattern wie eine weiße Fahne. Mit einem lauten Platschen landeten beide im brackigen Hafenwasser. Entsetzt taumelte er ein paar Schritte zurück, bevor er dann doch die rutschige Treppe hinunter lief. Auf der untersten Stufe angelangt beugte er sich über das Wasser und suchte hektisch die Oberfläche ab.

Vermutlich hat sie vor Erschöpfung die Herrschaft über ihren Körper verloren und ist hinab gestürzt, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn sie bewusstlos ist könnte sie ertrinken! 

Panisch überlegte er was er tun sollte. Hilfe rufen? Ganz bestimmt nicht! Alle würden wissen, dass er die Seejungfrau gestohlen hatte. Man würde ihn von der Universität werfen, sein Ruf und der seiner ganzen Familie wäre für immer zerstört.

Und hinterher springen konnte er auch nicht. Er konnte nicht schwimmen.

Doch plötzlich sah er wie langsam ein Gesicht aus dem Wasser vor ihm auftauchte. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er wie die Seejungfrau nur einen halben Meter vor ihm den Kopf aus dem Wasser streckte. Ihre schwarzen Rehaugen funkelten und...sie lächelte. Aber nicht erleichtert oder froh über ihre wieder gewonnene Freiheit. Sie bleckte ihre scharfen Eckzähne und grinste Charles bösartig und triumphierend an. Diesem lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, wie paralysiert wagte er nicht einen Muskel zu rühren. Die Furcht stieg brodelnd, wie Lava in ihm hoch. 

Hatte sie nicht einem Matrosen brutal mit ihren Krallen das Gesicht entstellt? 

Sie kicherte und begann schallend zu lachen. Ihre Stimme war rauh und hoch und ihr Gelächter erbarmungslos. „Ihr seid ja so bedauernswert!", rief sie. Charles gab keinen Ton von sich. „Ich brauche nur ein wenig mit den Augen zu klimpern und ihr liegt mir zu Füßen!" Sie setzte ihre Unschuldsmiene auf und blinzelte ihn mit ihren langen, schwarzen Wimpern an. Kleine Schneekristalle ließen sich auf ihnen nieder. 

Selbst jetzt fand er sie noch faszinierend...und entzückend. 

„Ihr seid furchtbar naiv.", flüsterte sie. „Ihr wollt unbedingt immer den Helden spielen, den Überlegenen, den Allwissenden. Dabei seid ihr so durchschaubar." 

„W-was-", stotterte er, doch sein Gehirn gehorchte ihm nicht mehr. Er fühlte sich seltsam angezogen und gleichzeitig verängstigt durch das Geschöpf, das vor ihm im Wasser dümpelte. „Du gehörst du der schlimmsten Sorte von allen. Du glaubst alles zu wissen, für alles eine Erklärung zu haben. Und wenn etwas auftaucht, dass nicht in deine kleine Welt, in der alles entweder schwarz oder weiß zu sein hat, passt, dann bist du aufgeschmissen. Im Grunde bist du nämlich nur ein kleiner, verängstigter, nach Aufmerksamkeit greinender Junge."

Was sollte er darauf antworten? 

Der Schnee, der sich in seinem Nacken gesammelt hatte schmolz und lief in eiskalten Rinnsalen seinen Rücken herab.„Wie auch immer.", schnarrte sie und band sich das weiße Tuch um die Brust. „Ich kehre jetzt wieder in das echte Leben zurück. Wenn du diese billige Imitation, die ihr Landratten Leben nennt, endlich als solche erkannt hast, dann kannst du ja nachkommen." 

Noch einmal lachte sie herablassend, dann tauchte sie unter und war verschwunden.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 20, 2017 ⏰

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Merle oder Mein Heim ist das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt