29. Oktober 1885

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Die seltsame Gestalt fror erbärmlich in ihrem Gefängnis. Normalerweise half ihr dichtes Fell ausgezeichnet gegen die Kälte, doch da sie seit einer Ewigkeit nichts essbares zu sich genommen hatte, kämpfte sie verzweifelt gegen ihre stetig sinkende Körpertemperatur an.

Frierend und hungernd hatte sie nun schon tagelang im Bauch des Schiffes gelegen, eingeschlossen in einem Tierkäfig, in dem sich nichts, außer einem kleinen Haufen Stroh befand. Theoretisch wäre der Versuch das Schloss zu knacken, eventuell eine Möglichkeit gewesen zu entkommen, doch der Käfig wurde stets von einem Matrosen bewacht. Der Kapitän persönlich überwachte die regelmäßigen Schichtwechsel, außerdem schaute ein ranghoher Offizier ab und zu nach dem rechten. Den einzigen Schlüssel zum Käfig bewahrte der Kapitän selbst auf, sodass keiner seiner Männer auf die Idee kam „sich der Seejungfrau auf eine unsittliche Art und Weise zu nähern", wie er es selbst bei jedem Schichtwechsel formulierte.

Die „Seejungfrau" kauerte sich derweil in eine Ecke ihres Gefängnisses, den Rücken zu ihrem Wachposten gewandt, und versuchte ihre Blöße mit Stroh zu bedecken, was ihr nur spärlich gelang. Die Kälte entzog ihr weiter unerbittlich ihre letzten Energiereserven.

Tatsächlich aber, traute sich kaum einer der Matrosen, ihr auch nur ein wenig näher zu kommen. Die meisten beobachteten zwar jede ihrer Regungen mit großer Neugier, doch wagten es nicht um den Käfig zu schreiten und sie von nahem zu betrachten.

Der Glaube an die mystischen Kräfte der „Seehexe" saß zu tief in ihren Knochen und behielt sie auf einem respektvollen Abstand.

Nur einer von ihnen erdreistete es sich an den Käfiggittern zu rütteln und lachend nach der zitternden, sich krümmenden Gestalt zu greifen. Er zog an dem Ende des Stoffes, der um ihre Brust geschlungen war, packte sie an der Schulter und versuchte sie mit dem Gesicht zu sich zu drehen. „Lass dich doch mal ansehen, Kleines! Dort unten im Meer hast du dich doch auch nicht versucht zu verstecken." Er schlich um den Käfig und hockte sich direkt vor das vermeintlich schutzlose Geschöpf. Langsam hob es den Kopf, sein Gesicht hielt es hinter seinen langen Haaren verborgen. „Von wegen Seehexe!", schnarrte sein Gegenüber herablassend. „Ich habe doch keine Angst vor einem kleinen Mädchen!" Mit einem lüsternen Grinsen langte er durch die Gitterstäbe, doch plötzlich ergriff die „Seejungfrau" ruckartig sein Handgelenk und bleckte ihre scharfen Eckzähne. Sie fauchte wie eine Raubkatze und der sich eben noch so überlegen fühlende Matrose wich erschrocken zurück.

Der Griff des Geschöpfes war stark und fest, nun war er das Opfer. 

Noch bevor er die Situation ganz begriffen hatte, zog die Gestalt schlagartig an seinem Arm und er schlug mit seinem Gesicht gegen das Käfiggitter. Ein dumpfer Schlag ertönte. Fluchend und schreiend ruderte er mit den Armen bis fünf scharfe Krallen durch sein Gesicht fuhren. Laut brüllend riss er sich los und taumelte durch den Raum in Richtung der Luke zum Deck. Blut tropfte auf die knarzenden Holzdielen. Drei seiner Kollegen rissen die Luke auf und zogen den Verletzten, der sein Gesicht in seinen Händen vergraben hatte, zu sich nach oben. Von diesem Moment an, wusste jeder Matrose, welch gefährliche Fracht sich im Bauch ihres Klippers befand.

Nach mehreren Stunden stand wieder einmal ein Schichtwechsel an.

Kapitän Walsh beäugte den ganzen Vorgang ganz genau mit seinem strengen Blick und wiederholte erneut seine rudimentäre Ansprache für den neuen Bewacher. „Seien sie gewarnt, dass diese Kreatur äußerst gefährlich ist. Nähern sie sich nicht dem Käfig, außer es ist zwingend notwendig. Bleiben sie auf dem ihnen zugeteilten Platz." „Aye, aye, Sir!" „Es ist nicht gestattet den Käfig zu öffnen, zu verrücken oder anderweitig zu beschädigen." „Aye, aye, Sir!"„Es ist außerdem nicht gestattet, sich der Seejungfrau auf eine unsittliche Art und Weise zu nähern, sie wissen, was dann geschieht..." Walsh beobachtete aus den Augenwinkeln die zusammengekauerte Gestalt. Kein Fünkchen von Bedrohlichkeit schien mehr von ihr auszugehen.

„Jegliche Kontaktaufnahme von Seiten der Gefangenen ist mir oder einem der Offiziere unverzüglich zu melden. Die Kontaktaufnahme von Seiten des Wächters ist untersagt." „Aye, aye, Sir!" „Sollten sie gegeneine dieser Regeln verstoßen, werde ich sie ohne Honorar entlassen, sobald wir im Hafen von London anlegen. Haben sie das verstanden?" „Selbstverständlich, Sir!" Der Matrose salutierte gehorsam. „Gut, passen sie auf sich auf." Kaptän Walsh klopfte seinem Untergebenen auf die Schulter und verließ den Raum.

Unsicher ließ sich der junge Mann auf einer Kiste nieder und stellte seine Tranlampe neben sich auf den Boden. Nervös blickte er zum Käfig hinüber. Im schummrigen Licht konnte er kaum ausmachen, wie das Wesen aussah, ganz davon abgesehen, dass es ihm den Rücken zukehrte. Er schluckte und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, als sich die Gestalt im Käfig plötzlich bewegte. Sie griff sich an den Magen, der ein gequältes und langes Grummeln von sich gab. Die„Seejungfrau" knurrte leise und zog die Knie an ihre Brust.

Instinktiv griff der junge Mann in seine Brusttasche, in der sich ein kleiner Kanten Brot befand. Der Rest seines spärlichen Abendmahls. Er zögerte. Was sollte er nun tun? Jeglicher Regelverstoß würde ihn seinen gesamten Lohn kosten, den er doch so dringend brauchte. Außerdem...sollte er sein Leben dafür riskieren, einem gefährlichen Monster zu helfen, auch wenn es gerade noch so erbarmungswürdig aussah? Was wenn auch er angegriffen würde? Die Krallen des Untiers könnten vergiftet sein, sein Biss könnte den sicheren Tod bedeuten. Noch hatte sein verletzter Kollege keine Symptome einer Vergiftung gezeigt, aber...

Die „Seejungfrau" wimmerte leise. Der Matrose atmete tief ein und erhob sich von der Kiste. Langsam und vorsichtig schritt er näher zum Käfig. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich niederkniete und durch die Gitterstäbe blickte. Zitternd hob er die Tranlampe. Im warmen Licht nahm die kleine Gestalt allmählich klarere Formen an.

Sie war klein, höchstens einhundertsechzig Zentimeter groß und ihr dunkles Haar, das ihrem Kopf entsprang, reichte ihr ungefähr bis zur Hüfte. Ihr Rücken, ihre Arme und ihre Beine waren von einem dichten Fell aus feinen Haaren bedeckt, hier und da zeichneten sich dunkle Flecken darauf ab. Ihre Füße ähnelten den Flossen von Robben oder Seehunden. Vorsichtig legte der junge Mann den Brotkanten hinter die Gitterstäbe und schob es der Gefangenen entgegen. Sie regte sich nicht. Der Matrose richtete sich wieder auf und ging langsam auf seinen Platz zurück. Erleichtert darüber, außer Gefahr zu sein atmete er auf. Lange beobachtete er noch den Käfig. Allmählich fielen ihm die Augen zu, bis das Geschöpf plötzlich eine Regung zeigte. Mit einer Hand betastete sie das Brot, hob es auf und schnüffelte daran. Gespannt wagte der Matrose nicht sich zu bewegen, sondern betrachtete, wie die Gestalt im Käfig langsam einen Bissen von dem trockenen Kanten nahm. Sie hustete, aß den Kanten aber anschließend ganz auf. Dann schüttelte sie ihren Kopf und strich sich die Haare zurück. Erstaunt sah ihr Bewacher, dass sie ein nicht unansehnliches Antlitz besaß. Ihre Nase war schmal und klein, ihre Lippen fein und schmal und ihre Augen groß und dunkel, wie die eines Rehs. Sie sah zu ihm hinüber und lächelte verführerisch. 

Augenblicklich wich der junge Mann ein Stück zurück, verlor aber dabei den Halt auf seiner Kiste, fiel nach hinten über und plumpste polternd auf den harten Holzboden. Stöhnend rieb er sich den Hinterkopf, bis er ein leises, heiseres Kichern hörte.

 „Vielen Dank."






Merle oder Mein Heim ist das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt