„Ich hab kein Smartphone", sagte ich.
Das war ja mal die mieseste Ausrede aller Zeiten. Bloß dass es keine war, sondern der Wahrheit entsprach. Mein Tastenhandy genügte vollkommen, ich mochte es nicht, mehr als nötig auf einen flimmernden Bildschirm starren zu müssen.
Karins Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Oh okay, dann war die Frage nach deiner Nummer, um dich in die Klassengruppe auf WhatsApp zu stecken, wohl überflüssig."
„Kann ich dich nicht einfach wieder anrufen, wenn ich nochmal krank sein sollte?", fragte ich. Die letzte Woche hatte ich mit einer schönen Grippe flachgelegen.
Na gut, eigentlich hatte ich nur Kopfschmerzen gehabt. Nicht mal besonders starke. Doch mir hatte einfach die Kraft gefehlt, die Motivation, die Freundschaft, um mich weitere fünf Tage in die Schule zu schleppen.
Die Hausaufgaben konnte ich am Ende der Woche bei Karin in Erfahrung bringen, denn nachdem ich zum fünften Mal ihre Telefonnummer gewählt hatte, war sie endlich dran gegangen.
Ich hatte einfach nicht mehr gekonnt und genau genommen konnte ich noch immer nicht. Doch es spielte keine Rolle. Hier war ich wieder, führte jetzt dieses Gespräch mit Karin, das mir nur zeigen sollte Ruf mich nie wieder über's Festnetz an, Steinzeitmensch. Sie wollte nicht wirklich meine Handynummer haben, sie wollte bloß, dass ich in der Klassengruppe auf WhatsApp landete und andere wegen der Hausaufgaben nerven konnte.
Wahrscheinlich interpretierte ich das alles ganz fürchterlich falsch, doch ich hatte keine Lust, es richtig zu interpretieren. Ich hatte keine Lust mehr, mich um Freundschaft zu bemühen, wo ich doch schon lange versagt hatte.
„Klar, ruf einfach wieder an", erwiderte sie. Nicht sarkastisch oder so, aber müde.
Dann ging Karin, um sich zu ihren Freundinnen zu gesellen.
***
Frau Koch kam und schloss uns den Raum auf. Es gab Lehrer, die machten guten Unterricht. Es gab Lehrer, die machten keinen guten Unterricht, dachten aber, sie würden guten machen.
Und dann gab es noch Frau Koch. Sie zählte ich zu der Sorte von Lehrern, die genau wussten, dass ihr Unterricht beschissen war und trotzdem nichts veränderten.
Mit gewohnt missmutigem Gesichtsausdruck schloss sie die Tür auf und betrat den Biologieraum. Der Rest und auch ich folgten, unsere Launen passten sich ihrer an.
***
Bessere Zeiten kommen nicht
Der Vers in der kaum leserlichen Handschrift löste ein Kribbeln in meinem Bauch aus.
Es war nicht schwer, ein Wort zu finden, dass sich auf nicht reimte und so entschied ich mich für sticht.
Die Einsamkeit sticht
Ja, sie stach. Sie war wie ein nerviges Insekt, das nicht zu stechen aufhören wollte. Oder wie ein Zahnstocher, der mir ein Loch nach dem anderen in den Körper stach.
Bloß dass die Schmerzen und die Wunden unsichtbar waren. Weil die eigenen Probleme so oft für die Außenwelt nicht zu erkennen waren.
Hand in Hand gingen Probleme und Einsamkeit.
Wie gerne würde ich meine Gedanken in Worte fassen, doch tat es nicht, weil keiner den schnellen Sätzen lauschen oder ihnen gar folgen können würde. Weil meine Worte nicht verstanden und wahrscheinlich sogar belächelt werden würden.
Und noch ein Problem: Ich schrieb unendlich gerne Geschichten, doch nach wenigen Kapiteln brach ich immer aus mangelnder Erfahrung ab. Was hatte ich in meinem einsamen Leben schon erlebt, über das sich Bücher schreiben ließ?
Sogar ein drittes Problem: Wie gerne hätte ich Freunde. Doch die Tatsache, dass ich keine hatte, bewies mir immer wieder, dass ich zu dumm und zu eigenartig war, um welche haben zu können.
Und dann gab es diese klitzekleine Sache, die in meinem Leben richtig lief und die trotzdem eine dumme Mauer war, errichtet vor der Abzweigung, die ich nehmen müsste, um der Einsamkeit zu entkommen.
Es war die Person, die als einziges auf mich einging, mehr noch, die sich darauf verstand, meine Sätze zu vervollständigen und zu beenden. Die einzige Person, der ich zutrauen würde, dass sie mein Freund werden könnte.
Doch sie konnte nicht mein Freund werden. Ich kannte sie nicht und ebenjener Linkshänder kannte mich nicht. Nur die Handschrift und die Wörter hatten wir von einander.
Und trotzdem... Ich musste feststellen, dass ich ihn zu mögen begonnen hatte.
Nur wegen ein paar dummen Wörtern.
Weil diese Wörter die Stiche der Einsamkeit zwar nicht abwehren konnten, manchen aber ein wenig der dahergehenden Schmerzen nahmen.
Und dafür war ich dankbar.
Jemanden zu haben, den ich nicht einmal vagen Bekannten nennen konnte und der dennoch mehr als das war.
Warum machte es mir das Schicksal so schwer?
Ich wollte die Mauer durchbrechen und den Weg raus aus der Einsamkeit einschlagen. Doch wie durchbrach man eine Mauer mit einer zittrigen Hand?
Ich hatte Angst, mir falsche Hoffnungen zu machen, wenn ich Menschen an mich ranließ. Ich wollte keine falschen Freunde mehr.
Und doch hatte ich es riskiert. Ich hatte den Fremden in mein Herz gelassen, weil ich sicher war, er konnte mich nicht verletzen. Wie sollte er jemanden verletzen, den er nicht kannte?
Doch wenn ich die Wahl hätte, ihn entweder kennenzulernen und daraufhin womöglich vor eine neue Mauer gestoßen zu werden oder aber an meinem jetzigen Standpunkt zu verharren - vor der bisherigen Mauer und mit der Ungewissheit, mit wem ich das Gedicht schrieb - ich würde mich für die erste Möglichkeit entscheiden.
Weil ich wusste, dass er die Einsamkeit kannte und mein Herz darauf hoffte, dass ihn das mir ähnlich machte.
Nur würde ich ihn nie kennenlernen, ich wusste nicht wie.
Ich könnte natürlich auf das Schicksal vertrauen, aber das Schicksal war ein kleines Miststück und ebenfalls ein enger Freund von der Einsamkeit und den Problemen.
Das Schicksal würde mir nicht helfen. Das Schicksal erschuf nur Probleme und die Einsamkeit.
Und es erschuf Hoffnung... Hoffnung, wo es keine gab. Es ließ mich darauf hoffen, dass der Fremde die Einsamkeit ausläuten würde.
Doch wie sollte er das machen? Poetische Wörter alleine würden nicht reichen und mehr würde ich niemals von ihm bekommen.
Auch wenn das Schicksal so nett wäre, ihn mir über den Weg laufen zu lassen, ich würde ihn ja doch nicht erkennen. Dafür bräuchte es seine Handschrift und die stand keinem ins Gesicht geschrieben.
Ich mochte das Schicksal nicht, denn es ließ mich durch den Linkshänder glauben, dass ich dabei war, aus dem Abgrund, in den ich gestürzt war, herauszufliegen, während ich in Wirklichkeit immer tiefer hineinfiel.
Oh ja, der Fremde hatte ganz recht.
Bessere Zeiten kommen nicht.
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Die Verse der Einsamkeit
Teen FictionWenn aus Buchstaben Wörter werden und aus Wörtern Verse, wenn aus halben Sätzen ganze werden, aus Versen Strophen und aus Strophen ein Gedicht. Ein Junge und ein Mädchen, die die Andersartigkeit und die Einsamkeit und nicht zuletzt die Liebe zum Det...