19. Vers (Elisabeth)

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Ich würde gerne behaupten, dass ich es nicht geahnt hätte. Aber das wäre gelogen gewesen. Tief in meinem Inneren hatte ich es nämlich schon die ganze Zeit gewusst. Mir war klar gewesen, dass ich nur durchhalten würde, wenn ich die Tatsache auf Abstand hielt.

Ich hatte sie ausgeblendet. Ich hatte sie fast vergessen.

Aber mir war auch klar gewesen, dass sie sich ab einem gewissen Punkt nicht länger verdrängen lassen würde.

Die Information, die zu Beginn nur eine Option, eine vage Vermutung gewesen war, entwickelte sich zur unumgänglichen Wahrheit. Und sie hallte in meinem Kopf wider. Und wider.

Sie lautete: Du wirst sitzen bleiben.

„Können Sie mir sagen, woran es liegt, dass Sie so wenig, eigentlich gar nichts, zum Unterricht beitragen?", fragte Frau Koch, die mir gegenüber stand.

Ich sagte nicht: „Ich weiß es nicht." Ich sagte auch nicht: „Ich träume zu viel." Ich wusste nicht genau, warum ich etwas anderes sagte, aber in diesem Moment fühlte es sich richtig an. Fühlte es sich richtig an, in einer Metapher zu sprechen. Ich sagte: „Ihr Unterricht ist ein Puzzle. Viele Teile hatte ich nie und andere habe ich verloren und die, die ich besitze, passen nicht aneinander. Ich weiß nicht mal, welches Motiv das vollständige Puzzle ergeben würde."

Ich hatte noch nie so viele Wörter, die nicht abgelesen waren, auf einmal ihr gegenüber verloren. Und dann hatte ich gleich in einer Metapher gesprochen und keineswegs langsamer, als ich es sonst zu tun pflegte.

Frau Kochs Reaktion war verständlich: Sie starrte mich an. „Wie bitte?"

„Keine Ahnung", log ich.

„Nun, ihre Zeugnisnote fällt in jedem Fall negativ aus", machte sie einfach weiter.

Ich nickte. Ich sollte gefasst darauf sein. Stattdessen begannen meine Augen zu kribbeln.

Ich hatte bereits vier Noten gesagt bekommen. Zwei davon waren negativ, das hätte ich ausgleichen können. Aber das hier war die dritte negative.

Das hier war das Ende. Die unumgängliche Wahrheit eben.

Ich bleibe sitzen.

Ab sofort würde ich mich mit dem Gedanken befassen müssen.

„Dass es in Mathe nicht besser um Sie steht, das weiß ich. Wie sieht es in den anderen Fächern aus?", fragte Frau Koch.

Tränen quollen mir aus den Augen, als sie mich zwang, den Satz auszusprechen. „Ich bleibe sitzen." In Echt klang es noch erbärmlicher als in meinem Kopf.

Ich wollte nicht weinen. Ich schämte mich so. Nicht mal meine Emotionen hatte ich unter Kontrolle.

Sie ignorierte die Tränen, vielleicht bemerkte sie sie auch nicht. „Das halte ich für angemessen. Wie alt sind Sie?"

„Sechzehn." Ich wurde erst in zwei Monaten siebzehn.

„Damit sind Sie ohnehin sehr jung für die elfte Klasse. Ein Jahr mehr wird Ihnen sicher nicht schaden."

Oh nein - nein. Nicht noch ein Jahr Schule mehr. Das würde ich nicht aushalten. Nicht nochmal von einem Neuanfang enttäuscht werden. Nicht nochmal keinen Anschluss finden. Nein... Nein...

„Das ist kein Weltuntergang", sagte Frau Koch etwas sanfter, als sie begriff, dass ich weinte. „Beruhigen Sie sich doch", sagte sie dann.

Ich nickte. Ich wollte gehen. Nicht ins Klassenzimmer. „Ich geh mal auf Toilette", sagte ich.

Und rannte zur Toilette. Rannte einfach nur weg.

Nicht nochmal von vorne anfangen... Hier kannte ich die Menschen wenigstens schon.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt