16. Vers (Marvin)

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Als ich das Schulgelände betrat, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich besser daran getan hätte, Zuhause zu bleiben. Ich konnte nicht ständig fehlen, also war ich gekommen.

Ich sah auf das Handydisplay. Zu spät wie immer. 21 Minuten, wenn man es so genau wie Nora nahm. Ich war auch schon mal pünktlicher gewesen.

Mit gesenktem Kopf ging ich den Schulhof entlang. Ich wollte nur, dass der Tag verging, wollte nur, dass ein neuer anbrach...

„Hey, Marvin!"

Mein Blick schwenkte zur Seite. Dort saß Leon auf einer Bank. Alleine. Der Anblick verwunderte mich so stark, dass ich für einen Moment vergaß, was mich beschäftigte. „Leon? Hat das Sandmännchen dich vor die Tür gesetzt oder wie?"

„Ich bitte dich", meinte Leon. „Das würde es niemals tun."

„Wer weiß, vielleicht hast du es mit deinem Seid alle still und hört auf, mich zu nerven etwas übertrieben..." Eigentlich wollte ich es nur denken, aber den Gefallen tat mir meine Zunge heute nicht.

Einen Moment sah es so aus, als wäre er beleidigt, doch dann sagte er: „Sei still und hör auf, mich zu nerven."

„Na dann. Tschüss, Leon, ich geh in den Unterricht." Es würde wirklich besser sein, heute mit keinem zu viel Konversation zu betreiben. Ich hatte das Gefühl, vor Wut und Hass gleich zu explodieren und Leon konnte absolut nichts dafür. Er sollte es nicht abbekommen.

Ich ging an ihm vorbei in Richtung Eingang.

„Marvin, warte!"

Einen Moment war ich versucht, ihn zu ignorieren, doch dann drehte ich mich um. „Was?" Ich klang genervt, dabei nervte er mich nicht. Ich freute mich normalerweise, wenn mein ehemals bester Freund mit mir sprach.

„Bio wurde in die dritte und vierte Stunde verlegt, wir haben frei."

Ich sah ihn finster an. „Und das sagst du mir erst jetzt?" Ich klang sauer, ich schrie fast. Das war der Moment, indem ich langsam ahnte, dass es wirklich besser gewesen wäre, Zuhause zu bleiben.

Es entstand eine Pause und Leon betrachtete mich eingehend. „Kumpel, was ist denn los mit dir?"

„Alles bestens", wehrte ich ab. Meine Stimme hatte inzwischen wieder einen gleichgültigen Ton angenommen.

Er erhob sich jetzt von der Bank und kam ein paar Schritte näher. Glücklicherweise oder zu seinem Pech hakte er nicht weiter nach.

„Wo ist Nora?", fragte ich.

„Krank", sagte Leon.

„Und Andi und Michael?"

„Tja, wo werden Andi und Michael wohl sein?"

„Woher soll ich das denn wissen?" Mein Kopf war ausgeschaltet, ich dachte nicht nach, meine Sprechlautstärke lag schon wieder gefährlich nah an der Grenze zum Schreien.

„Die haben den Vertretungsplan rechtzeitig gelesen und drehen sich gerade in ihrem Bett um", erläuterte Leon ruhig.

„Schön."

Leon seufzte. „Na gut: Was hat Stephen ausgefressen?"

„Wie bitte?", fragte ich.

„Deine Aggressivität kommt doch nicht von nichts. Also, was hat Stephen dieses Mal angestellt?"

„Gar nichts", sagte ich in freundlicherem Ton, denn es stimmte. „Und ich bin nicht aggressiv, das hab ich schon lange hinter mir."

Leon zuckte die Schultern. „Okay." Schweigen. Dann: „Willst du dich heute im Unterricht neben mich setzen?"

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt