Ich war - oh Wunder - zu spät.
Mit Stephen ging es momentan drunter und drüber, ich konnte den Kerl einfach nicht ertragen. Und doch - alles in allem war es nicht so furchtbar schlimm wie vor ein paar Wochen, als ich völlig ausgetickt und auf Leon losgegangen war.
Als ich die Treppe zu den Biologieräumen hochstieg, hoffte ich inständig, dass das Sandmännchen sich so wie letzte Woche dazu entschieden hatte, krank zu sein. Es war herrlich, letzte Woche früh genug zu wissen, dass das Sandmännchen nicht da war und ausschlafen zu können. Es konnte ruhig öfter ausfallen.
Allerdings löste sich diese Hoffnung in Luft auf, als ich Herr Sandmans Stimme hörte.
Ich konnte sehen, wie Nora und das Sandmännchen vor dem Raum saßen und miteinander redeten.
Notenbesprechung.
Sobald Nora mich sah, blickte sie auf ihre Armbanduhr und im Anschluss wieder zu mir. „Marvin, du bist elf Minuten zu spät!"
„Tut mir echt leid, aber ich war schon mal später", verteidigte ich mich und sah das Sandmännchen an.
Herr Sandman seufzte. „Das ist wahr. Ab mit dir in den Raum."
Ich nickte und betrat den Raum.
Andi, Michael und Leon nahmen mich nicht wirklich wahr, als ich mich in der Tischreihe hinter ihnen niederließ.
„Hallo? Lebt ihr eigentlich?", probierte ich es probehalber aus.
Leon sah auf und drehte sich kurz zu mir um. Wir verstanden uns zum Glück wieder gut. Sogar besser als vor der... Auseinandersetzung. Die Schürfwunde an seiner Hand war wieder so gut wie verheilt und er hatte bis eben munter auf seinem Handy getippt. „Marvin, hi", sagte er.
„Hi Marvin", sagte Andi und hob zur Begrüßung kurz die Hand, sah dabei aber nicht vom Handy auf. Michael sparte sich sogar das Reden, sondern zuckte nur kurz mit dem Arm.
„Wir zocken ein neues Game", sagte Leon, der mittlerweile wieder auf sein Handy sah.
„Also nicht stören", sagte Michael.
„Scheiße!", rief Andi. „Game Over!"
„Ihr seid doch süchtig", bemerkte ich, musste aber grinsen. Solche Idioten.
Nora kam wieder rein und setzte sich auf ihren Platz.
„Sehen aus wie Zombies, findest du nicht?", sagte ich zu Nora und deutete auf die drei Jungs, die nacheinander immer wieder stöhnten oder jubelten, weil sie verloren oder am Gewinnen waren.
„Yep", meinte sie. „Ich mach mit." Sie zückte ihr Handy, lehnte sich an Leon und zockte ebenfalls.
„War ja klar." Ich konnte mir zwar auch kein Leben ohne Handy vorstellen, aber man musste es doch nicht ständig benutzen. Oh je.
„Du kannst dir die App ja auch runterladen", schlug Andi vor. „Sie heißt..."
„Kein Interesse."
„Wenn du nicht mitzockst, vereinsamst du noch, aber wie du willst."
Ich war schon vereinsamt, obwohl es gerade erträglich war. Leon konnte ich schon fast wieder als besten Freund bezeichnen und den Rest konnte ich wieder Freunde nennen.
Ganz recht, es ging bergauf. Ich war noch einsam, aber für den Moment schien es so, als wäre der Lichtblick endlich mal von Dauer.
Wie von selbst fiel mein Blick wieder auf den Tisch.
Ich wollte nicht über die Einsamkeit schreiben, ich war im Moment zu optimistisch.
Denn es gab Grund zu hoffen, selbst wenn Stephen wieder absolut unausstehlich war. So konnte es nicht für immer bleiben. Diesen Sommer machte er seinen Abschluss, dann würde er doch hoffentlich endlich ausziehen. Dass das Thema allerdings noch nicht im Raum stand, beunruhigte mich.
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Die Verse der Einsamkeit
Teen FictionWenn aus Buchstaben Wörter werden und aus Wörtern Verse, wenn aus halben Sätzen ganze werden, aus Versen Strophen und aus Strophen ein Gedicht. Ein Junge und ein Mädchen, die die Andersartigkeit und die Einsamkeit und nicht zuletzt die Liebe zum Det...