Das Haar war fettig und die Nase schief, doch ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich den Raum zum letzten Mal betrat.
„Du bist...", setzte Nora an, doch der Rest ihres Satzes blieb unausgesprochen, denn in dem Moment ertönte der zweite Schulgong und verkündete den Beginn der ersten Stunde.
„Wie wär's mit pünktlich?", schlug ich vor. Ich war stolz auf mich. Mit meiner absolut untypischen Pünktlichkeit hatte ich sie alle geschockt.
Das Sandmännchen fand als erstes seine Stimme wieder. „Ich finde, das hat einen Applaus verdient", sagte es und begann zu klatschen.
Der Rest fiel in sein Klatschen ein. Einen Moment war ich in Versuchung, mich zu verbeugen, beließ es dann aber bei einem: „Danke danke, ich habe ganz vergessen, meine Rede für diesen ehrwürdigen Tag vorzubereiten."
Herr Sandman schüttelte lachend den Kopf. „Schon gut, setz dich einfach."
Ich setzte mich und das Strahlen verließ mich nicht.
***
„Irgendwas stimmt nicht mit dir", bemerkte Michael in der Fünfminutenpause. Neben ihm hatten sich auch Andi, Leon und Nora in ihren Stühlen zu mir umgedreht.
„Im Gegenteil: Endlich stimmt einmal alles." Na gut, vielleicht nicht alles, aber zumindest vieles.
„Was ist passiert? Du kriegst die hässliche Grimasse ja gar nicht mehr aus dem Gesicht", sagte Andi.
Die hässliche Grimasse wurde noch hässlicher oder in unserer Sprache: Ich grinste noch breiter. „Ich habe die tollsten Neuigkeiten der Welt." Das war keine Spur untertrieben.
„Du bist schwanger?", fragte Michael entsetzt.
„Man o man, wer ist der Vater?", mischte sich Leon ein.
„Idioten", sagte ich und versuchte mich an einem düsteren und genervten Blick.
„Ah, schon besser."
„Gönnt ihm doch mal seine Freude!", sagte Nora.
„Was immer du sagst, Häschen", sagte Leon und drückte seiner Freundin einen Kuss auf die Stirn.
„Büah!", machte Andi und tat, als würde er sich übergeben, während er mit seinen Händen die Augen davor schützte, noch mehr von Leons und Noras Beziehung mitzubekommen. „Hat das denn nie ein Ende?"
„Ich fürchte nicht, Andi, ich fürchte nicht...", sagte Michael und streichelte seinem Sitznachbar mitleidig über's Haar, bis Andi nach ihm schlug.
Oh ja, ich mochte die vier. Auch wenn ich immer die Person war, die übrig blieb, war es doch gut, sie zu haben. Freunde zu haben. Denn das waren sie, auch wenn ich lange Zeit gebraucht hatte, um das zu kapieren und schätzen zu lernen.
„Was ist denn jetzt eigentlich die wirkliche gute Neuigkeit?", brachte Leon uns zum Thema zurück.
Allein der bloße Gedanke daran ließ mich wieder strahlen.
Ich konnte es noch immer nicht richtig glauben, ich hatte fast nicht mehr damit gerechnet und plötzlich war meine Vermutung Realität geworden.
Eine wunderbare Realität hatte sich mir eröffnet. Eine blendende Zukunft stand mir bevor.
Jetzt würde alles besser werden, jetzt würden meine Tage endlich wieder entspannt sein.
„Stephen zieht in einem Monat aus", lüftete ich das Geheimnis.
„Wurde langsam aber auch mal Zeit!", sagte Leon, der sich sichtlich für mich zu freuen schien. „Der Typ ist wohl der größte Arsch, den die Welt je gesehen hat - natürlich neben dir."
„Danke, Leon. Genau das habe ich jetzt gebraucht", sagte ich, nahm ihm den Sarkasmus allerdings nicht übel.
„Heißt das, du kommst jetzt öfter pünktlich?", fragte mich Nora. Ihr war anzusehen, dass sie es vermissen würde, mir täglich meine Verspätung mitzuteilen.
Ich dachte nach. „Na ja, wahrscheinlich nicht..." Ich hatte mich viel zu sehr daran gewöhnt, immer zu spät zu sein. „Aber ich denke, hin und wieder werde ich jetzt pünktlich sein."
„Finde ich gut", sagte Leon, der beschlossen hatte, wieder ernstgemeinte Sätze zu äußern.
„Jetzt müssen wir ihn aber jeden Tag ein paar Minuten länger ertragen", grummelte Andi.
„Ich hasse euch alle", sagte ich lachend und dann klingelte es zur zweiten Stunde.
***
Stephen zieht aus.
Stephen zieht aus.
Der Gedanke lief in Dauerschleife und mit jedem Mal ging es mir etwas besser. Endlich würde ich meinen Stiefbruder los sein.
Unentwegt grinste ich vor mich hin, beteiligte mich am Unterricht, obwohl es so kurz vor den Sommerferien war.
Auch die Sonne strahlte, aber ich strahlte noch breiter.
Und dann warf ich einen Blick auf das Gedicht. So viele Verse und Strophen hatte es inzwischen und mir wurde klar, dass ich mich in das Gedicht verliebt hatte. In meine Zeilen und in ihre Zeilen - in alle Zeilen. Sie waren faszinierend. Und einzigartig. Keineswegs perfekt, aber einzigartig.
Ich war dabei, mein Happy End zu bekommen. (Stephen zieht aus, Stephen zieht wirklich aus!)
Dieses Gedicht hatte auch ein Happy End verdient.
In einer Woche waren Sommerferien und ich konnte nur hoffen, dass das einsame Mädchen mit der geschwungenen Handschrift das vollständige Gedicht noch würde lesen können.
Irgendwann werd' ich die Einsamkeit verstehen,
ich werd' nach vorne sehen,
nicht mehr am Abgrund stehen
Oh ja, ich wusste ganz genau, wie der letzte Vers zu lauten hatte.
Ich kritzelte ihn nicht hin. Ich schrieb auch nicht unleserlich.
Ordentlich, langsam und in Großbuchstaben machte ich mich daran, das Gedicht zu beenden, auch wenn ich es nicht beenden wollte. Ich wollte nicht, dass es zu Ende ging.
Aber ich wollte, dass die Einsamkeit zu Ende ging.
Und so schrieb ich: UND DANN WIRD SIE ENDLICH VERGEHEN.
Das war's.
Das Gedicht war zu Ende und die Einsamkeit dabei, zu vergehen.
Ich sah kurz nach vorne, das Sandmännchen hatte begonnen, Witze über das Fach zu reißen und die meisten hatten ihr Handy dabei heimlich unter dem Tisch gezückt, darunter auch drei der vier Leute in der Reihe vor mir. Ich konnte mir vorstellen, dass Andi, Michael und Nora noch das gleiche Spiel spielten, dass sie in letzter Zeit nur noch spielten und dessen Namen ich mir immer noch nicht merken konnte. Oder nicht merken wollte. Leon jedenfalls zockte nicht, stattdessen lachte er über die Witze des Sandmännchens, die zugegeben ja wirklich lustig waren.
Ich schloss mich den Smartphonesüchtigen nun an, nahm mein Handy und schoss damit unauffällig ein Foto. Ein Foto von dem Gedicht, denn ich wollte es nicht vergessen. Wollte sie nicht vergessen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit würde ich nun nie mehr ein Wort von ihr lesen, geschweige denn herausfinden, wer sie war. Doch wer gab schon etwas auf Wahrscheinlichkeiten?
Diese hier klang beschissen und ich war nicht bereit, sie zu akzeptieren.
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Die Verse der Einsamkeit
Teen FictionWenn aus Buchstaben Wörter werden und aus Wörtern Verse, wenn aus halben Sätzen ganze werden, aus Versen Strophen und aus Strophen ein Gedicht. Ein Junge und ein Mädchen, die die Andersartigkeit und die Einsamkeit und nicht zuletzt die Liebe zum Det...