3. Vers (Elisabeth)

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Bis auf eine Katze hatte sich mein Leben kein bisschen verändert.

Ich hatte immer geglaubt, Neuanfänge trügen einen Zauber in sich. Ich hatte geglaubt, dass jetzt alles besser werden würde. Dass das hier mein Neuanfang war, auf den ich so unfassbar lange gewartet hatte.

Am Anfang schien es auch so. Ich bekam ein neues Zimmer in einem neuen Haus in einer anderen Stadt, in einer schöneren! Ich bekam ein Klavier und ich bekam Beethoven, als ich an einem einzigen Tag um ein Jahr gealtert war. Ich konnte das Klavier nicht spielen, aber Beethoven konnte es. Der talentierte Kater stolzierte täglich über die staubigen Tasten.

Ich hatte nicht viel von einem Neuanfang erwartet, schon gar nicht von meinem. Keine zu hohen Ansprüche an einen Zauber gestellt, an den ich nicht so recht glauben wollte. Nur einen einzigen. Ich wollte Freundschaft finden.

Ich war gescheitert. Es war jetzt Mitte Februar, inzwischen war die dritte Woche des zweiten Halbjahrs angebrochen und es hatte sich nichts verändert.

Hier war ich wieder. Frau Koch am Pult, wie sie uns einen Guten Morgen wünschte, weil es sich gehörte. Ich war nicht davon überzeugt, dass sie davon überzeugt war, dass es ein guter Morgen war. Weil es nie ein guter Morgen war.

Gute Tage gab es nur an Wochenenden. Und heute war nur ein hässlicher, nasskalter Montag.

Alle nahmen sie ihre Unterlagen heraus, doch ich starrte nur vor mich hin. Der Schnee war fort, Plusgrade hatten sich eingestellt. Den kahlen Bäumen war der Zauber wieder entrissen worden. Sie sahen kümmerlich aus, wie sie da standen, vollkommen entblößt. Ob sie auf den Frühling warteten? Darauf warteten, dass ihre Blätter, die letzten Herbst gestorben waren, wiederkamen? Wenn sie warteten, dann waren sie sehr geduldig.

Aber tat ich denn etwas anderes als warten? Ich wartete auf den Freitag, auf interessantes Wetter, auf den Schulgong, auf die Ferien, auf Freunde, auf einen Neuanfang und auf ein besseres Leben. Ich wartete immer und ich hatte ganz vergessen, wann ich das letzte Mal nicht damit beschäftigt war, zu warten.

„Elisabeth."

Ich schreckte auf und sah nach vorne, während alle anderen nach hinten sahen. Sie starrten mich an. Mein Herz begann zu rasen und meine Hände wurden schwitzig, während mir kälter wurde, ich zitterte sogar. Nein, ich wollte nicht angesehen werden. Ich wollte keine Aufmerksamkeit. Ich wollte einfach weiter vor mich hin träumen. Die letzten beiden Wochen hatte das doch auch ganz wunderbar funktioniert!

Meine Gedanken waren sowieso viel interessanter als Frau Kochs Unterricht.

Doch nun blickte ich der Lehrerin entgegen, gleichzeitig fischte ich blind nach meinen Unterlagen, doch das Schulbuch bekam ich einfach nicht zu fassen.

Frau Koch trat zu mir nach hinten, so weit, dass ihr sogar der leere Tisch auffiel, an dem ich saß. Sie funkelte mich an. „Der Unterricht hat begonnen. Es wird nicht geträumt! Holen Sie ihr Buch heraus und lesen Sie die erste Passage auf Seite 101 vor."

Ich nickte knapp. Lesen. Lesen konnte ich, das würde ich hinbekommen. Kein Grund zur Sorge. Eigentlich war es von Frau Koch sogar noch gnädig, mich nur bereits gedachte Wörter aussprechen zu lassen.

Ich brauchte keine Angst zu haben. Keiner würde lachen. Wahrscheinlich waren alle wieder so sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie kaum mitbekommen würden, dass ich überhaupt etwas sagte.

Es war egal. Keiner würde sich daran erinnern und es würde auch nicht peinlich werden.

Bloß... Wenn es so egal war, warum musste ich dann überhaupt etwas vorlesen?

Mein Herz schlug munter vor sich hin und dann blieb es fast stehen. „Ich habe mein Buch vergessen", wisperte ich. Ich hatte es mir wieder abgewöhnt, zwanghaft langsam zu sprechen, denn es hatte ja auch nichts genutzt. Stattdessen stolperten die Wörter nun so schnell wie eh und je aus meinem Mund. Ich konnte nicht einmal sagen, ob sie auch in der richtigen Reihenfolge in den Köpfen der Zuhörer landeten.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt