Dunkelheit

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Ich rannte durch den Wald. Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen und ab und zu hörte Geräusche. Ich konnte nicht viel sehen, die Tränen verschleierten meine Sicht. Warum, warum meine Familie? Mein Leben war schon schwer genug, jetzt musste ich mir einen Unterschlupf bauen, Essen besorgen und versuchen, nicht zu erfrieren. Einen winzigen Augenblick dachte ich daran, ob es nicht besser gewesen wäre, in unserer Hütte gewesen zu sein, als der Angriff startete. Dann wäre ich bei meiner Familie. Ich wischte den Gedanke beiseite. Jetzt durfte ich nicht aufgeben. Ein Kloß wuchs in meinem Hals. Ich konnte nicht mehr richtig atmen, nur schluchzen. Trotzdem rannte ich bestimmt noch eine Stunde, dann aber brach ich zusammen. Ich war müde und erschöpft, und der Verlust meiner Familie zehrte an mir. Meine Gedanken waren vernebelt. Zitternd suchte ich ein Versteck. Schließlich fand ich eine Aushöhlung in einem kleinen Abhang und legte mich hinein. Kaum hatte ich mich niedergelassen, schlief ich tief und fest ein. Ich wurde durch Stimmen und Gelächter geweckt. Es war noch immer eiskalt, und meine Finger waren blau angelaufen, obwohl sie in Handschuhen eingepackt waren. Ich bewegte sie und langsam spürte ich die Finger wieder. Ich gähnte und rieb mir die Augen, doch schlagartig wurde ich wach. Etwa dreißig Meter entfernt liefen Soldaten, dem Anschein nach Deutsche. Ich versuchte, meine Wut zu unterdrücken. Wenn ich jetzt zu ihnen ging, würden sie mich vergewaltigen oder schlimmeres. Also kletterte ich auf einen Baum und beobachtete sie. Panzer fuhren zwischen den Bäumen. Ein Krankenwagen hinterher. Außerdem trabten mehrere Pferde vor den Panzern. Die Soldaten schienen fröhlich gestimmt zu sein. Es kam mir wie reiner Hohn vor. Hoffentlich entdeckten sie mich nicht. Plötzlich blieben sie stehen und ich sah etwas, das ich bisher noch nicht entdeckt hatte: einige Menschen, gefesselt, wurden nach vorne geholt. Ein Deutscher durchtrennte die Fessel und gab ihnen Spaten. Sie fingen an, den vereisten Boden aufzubuddeln. Ich unterdrückte nur mühsam ein Stöhnen. Eine der Leute, die gruben, war meine Freundin, deren Haus gestern abgefackelt war. Die Leute hatten Schwierigkeiten, zu graben, aber schließlich hatten sie es doch geschafft. Ich fragte mich, warum sie überhaupt buddelten. Meine Freundin und die anderen stellten sich vor die Grube. Die Soldaten holten Gewehre und mit einem mal wusste ich, was passieren würde. Schnell sah ich weg und hörte nur die Schüsse. Ich versuchte, einen Würgereiz zu unterdrücken. Mit Tränen in den Augen sah ich zu meiner Freundin, die vor Minuten noch quicklebendig war. Und jetzt war sie tot. Blut rann über ihr Gesicht und ihr Augen waren offen. Sie hielt ihren kleinen Bruder noch immer im Arm.

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