Scherben - N E U N

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'Ich suche Evelyn Heather. ', sage ich und stütze meine Arme auf dem Tisch ab.
Die Frau an der Rezeption setzt ihre Brille auf und schaut mich an.
'Sind Sie Rain Heather? ', fragt sie mit einer Stimme, die nicht ihrem Alter entspricht. So hoch und klar. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, das schon zahlreiche Falten aufweist, schätze ich sie auf fünfzig und in diesem Alter hat man doch nicht mehr so eine helle Stimme, oder? Worüber mache ich mir eigentlich Gedanken?
'Ja.', antworte ich knapp.
'Zweiter Stock, Raum 311', verrät sie mir.
Warum fragt sie mich überhaupt, ob ich Rain Heather bin? Sie wollte ja nicht mal einen Ausweis sehen, ich hätte also sonst wer sein können. Aber mir soll es egal sein. Ich mache mich auf den Weg zu den Fahrstühlen. Mir schwallt ein Duftgemisch aus Desinfektionsmittel und alter Menschen entgegen, als sich die Türen des Fahrstuhls öffnen und ich eintrete.
Ich drücke den Knopf und warte, bis sich die Türen erneut öffnen. Meine Schritte hallen in dem Gang wider. Ich achte auf die Beschriftungen an den Türen, bis mir die Zahl 311 in die Augen sticht. Langsam lege ich meine Hand an die Türklinke und atme tief ein. Dann drücke ich entschlossen die Tür auf.

Ich sehe ein Bett, indem aufrecht eine Frau sitzt. Indem meine Mutter sitzt.
'Mom', krächze ich.
Sie dreht sich nicht zu mir, bleibt einfach sitzen und knetet so doll ihre Hände, dass es fast schon brutal aussieht. Erst, als ich ganz in ihr Blickfeld trete, richtet sie ihre Augen auf mich. Ihre Mundwinkel zucken leicht.
'Wie geht es dir? ', frage ich und verschränke unsicher die Arme vor der Brust.
'Sie sagen, dass sie mich hier behalten wollen. Ich kann nicht auf Arbeit, aber ich muss doch arbeiten.', murmelt sie und beißt die Zähne zusammen, ohne auf meine Frage zu antworten.
'Nein, Mom. Du musst dich ausruhen. Wegen der ganzen Arbeit hattest du eine Stressattacke.'
Mom sagt nichts und knetet weiter ihre Hände.
'Willst du was trinken? Wasser oder so? ', frage ich mit einem Blick auf das leere Glas auf ihrem Tisch.
'Ja, ein Wasser. Danke.' Ihre Mundwinkel ziehen sich ein wenig nach oben.
Also verlasse ich das Zimmer und suche nach einem Getränkeautomaten. Ich laufe durch den Gang zum Fahrstuhl, um in das untere Stockwerk zu gelangen, da ich vorhin dort die Mensa gesehen habe und da auch einen Getränkeautomaten vermute. Und tatsächlich steht er auch ziemlich nah der Mensa. Ich krame ein paar Centstücke aus den Taschen meiner Jeans und drücke auf eine Taste. Mit einem dumpfen Schlag landet die Flasche ganz unten in dem Fach, wie auch immer man das nennt. Sie ist kalt, als ich sie mit den Händen umschließe und hoch zu Mom bringe.
Sie hat ihre Position keinen Millimeter geändert und knetet immer noch ihre Hände, als ich erneut den Raum betrete. Sie sieht blass aus, sehr blass. Ich nehme ihr Glas, gieße etwas Wasser hinein und reiche es ihr. Sie trinkt einen winzigen Schluck und umschließt es dann so fest mit den Händen, dass ich Angst habe, es würde zerbrechen.
Ich setze mich auf einen Stuhl und sehe sie an. Sie sieht so anders aus. Nicht mehr so fröhlich, wie früher. Nicht mehr so schön, wie früher. Auch, wenn ich es mir nicht eingestehen will, wir sind uns seit Keiras Tod so ungalublich fremd geworden.
So sitzen wir eine Weile und sagen nichts. Mom erwürgt praktisch das Glas und ich sitze meinen Hintern auf dem zugegeben sehr ungemütlichen Stuhl breit.

'Rain, bitte, hol mich hier raus. Ich halte es nicht aus, den ganzen Tag nichts zu tun.', bricht Mom plötzich das Schweigen und stellt das Glas auf ihrem Tisch ab.
'Mom, ich kann nicht. Du arbeitest dich noch tot. Du brauchst echt mal eine Auszeit!', antworte ich.
'Ich brauch keine Auszeit!', sagt sie und hebt ihre Stimme an.
'Du bist im Krankenhaus und hattest eine Stressattacke. Grund genug für eine Auszeit, mh?' Ich versuche ihr in die Augen zu schauen, scheitere aber bei dem Versuch.
'Ich hatte keine Stressattacke. Die Ärzte erzählen nur Unsinn. Auf Arbeit hatte ich einfach zu wenig getrunken... ', rechtfertigt sie sich und man merkt an ihrem Unterton, dass sie selber weiß, dass sie lügt.
'Natürlich.' Mein sarkastischer Unterton ist kaum zu überhören, doch Mom ignoriert ihn einfach.
'Bitte, hilf mir hier aus dem Krankenhaus!' Sie schaut mich an.
'Ich will nicht, dass es dir schlecht geht. Ich werde dir nicht helfen.', antworte ich entschlossen.
'Das kannst du nicht machen. Ich bin deine Mutter!' Ihre Stimme wird immer lauter.
'Meine Mutter?' Ich tue es Mom gleich und erhebe ebenfalls meinen Ton.
'Meine Mutter, die sich nie bei mir blicken lässt? Meine Mutter, die nie fragt, wie es mir geht und die nie für mich da ist?!'
Mom sieht mich an, bewegt ihren Mund, doch es kommt nichts heraus.
'Ich arbeite um zu vergessen... ', sagt sie schließlich leise.
Mom macht mich wütend, sehr wütend. Was will sie vergessen?
'Um was zu vergessen, Mom? Keira vielleicht?', schreie ich sie an, weil ich die Antwort schon kenne. Sie will ihre eigene Tochter vergessen.
'Erwähne diesen Namen nie wieder, verstanden?', ermahnt sie mich laut.
'Wieso? Scheiße, du kannst Keira nicht vergessen. Egal, wie viel du dich mit der Arbeit zu müllst. Sie ist deine Tochter und hat es nicht verdient vergessen zu werden! Kapierst du das nicht?'
'Halt deinen Mund. Sei einfach still!', brüllt Mom mich an.
Ich ignoriere ihre Forderung.
'Nach Keira's Tod war ich auf mich alleine gestellt. Nie warst du da. Aber du hast vielleicht nicht so ein schlechtes Gewissen, weil du mir jeden Montag VERDAMMTE PANCAKES GEMACHT HAST', den letzten Teil schreie ich nur. Mom verschwimmt langsam vor meinen Augen.
'Sag mir... ', meine Stimme zittert. 'Wie oft warst du nach Keira's Tod an ihrem Grab und hast sie besucht? Wann hast du gezielt an sie gedacht? Nie oder?' Eine Träne rollt ungewollt meine Wange hinunter. Mom antwortet nicht.
'ODER?! ', mir entfährt eine Mischung aus einem Schrei und einem Schluchzer.
'Lass mich, verdammt nochmal in Ruhe. Das Letzte was ich brauche sind dumme Vorwürfe aus dem Mund eines Teenagers, Rain!', zischt sie. 'Ich brauche dich nicht. Ich brauche die Gedanken an Keira nicht. Ich brauche nichts, außer die Arbeit. Und jetzt geh mir aus den Augen und komm nie wieder.' Meine Mutter beißt die Zähne zusammen und wendet den Blick von mir ab.
Nie, wirklich nie, hätte ich irgendeiner Mutter diese Sätze zugetraut.
'Du bist echt krank, Mom', sage ich.
'Du bist zu schwach, dein eigenes Schicksal auszuhalten. Und wer weiß, vielleicht bin ich es auch..'
Mir liegt ein Satz auf der Zunge, ich will ihn zurückhalten, doch schaffe es nicht.
'Keira wäre enttäuscht von dir.'
Dieser Satz gibt Mom den Rest. Sie reist die Augen auf und spannt ihren Körper an.
'GEH! Ich will dich nicht mehr sehen!', schreit sie. Ihre Augen flackern. Kurzentschlossen nimmt sie ihr Glas in die Hand und wirft es nach mir. Es prallt einen halben Meter von meinem Kopf entfernt an der Wand ab und zerbricht in tausend Scherben. Genau, wie meine Seele. Mom ist verrückt. Zu Schwach um noch irgendetwas zu sagen, verlasse ich ihr Zimmer.
Erst jetzt realisiere ich die Sachen, die meine Mutter zu mir gesagt hat.
Wenn sie es so will, kann sie es gern haben. Sie wird mich nie wieder sehen.

Rain fallsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt