Lauf, jedes Leben ist kostbar

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Die Sonne stand senkrecht über der großen alten Blechhalle, die sich unsere Unterkunft nannte. Die Luft dort drinnen war abgestanden, weshalb Perry und ich draußen im Schatten saßen. Ab und an kamen ein paar Leute vorbei, die frische Luft oder etwas zu trinken brauchten. Wasser gab es glücklicherweise noch, denn das wurde tief unter uns aus der Erde gepumpt. Doch keine drei Meilen weiter östlich, begann die Wüste. Ab dort war alles tot. Denn die Sonneneruption hat alles verbrannt, außer ein paar wenige Zonen. Auch die Forscher können es sich nicht erklären, wieso gerade diese Plätze verschont wurden. Zwar war es hier auch heiß, aber anscheinend lange nicht so heiß wie in der Wüste, die Sperrgebiet war. Ab und zu wurden Leute nahe der Zäune gefunden, die uns von der Sandlandschaft dort draußen schützten. Diese Menschen, waren am Rand ihrer Existenz. Sie hatten Wunden auf ihrer Haut, die durch die ständige Hitze verursacht wurden. Sie sahen verdammmt gruselig aus. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Einmal hatte ich eine Gruppe von vier Outsidern, wie wir sie nannten, gesehen. Wie wandelnde Leichen sahen sie aus. Aufgesprungene rote Haut, komische Blasen und versengte Haare und Kleider. Dieser Anblick bereitete mir immer wieder Gänsehaut.
Hier in unserer Zone, die etwa zehntausend Menschen auf engstem Raum fasste, lebten wir also, Perry und ich und einige der anderen, die überlebt hatten.
Perry riss mich durch sein Husten aus den Gedanken. Manchmal kam eine Windböhe und trieb den Wüstensand zu uns hinüber. "Argh!", sagte Perry. "Riechst du das nicht?". Verwirrt sah ich Perry an. Ich roch. Ein Würgereiz kam in mir hoch. "Was ist das?". Es roch nach Verwesung, ein beißender Geruch in der Nase. Und es kam auch nicht von der Wüste. Es kam von den großen Auffanglagern in der Mitte der Zone. Zudem hörte man Schreie. Schnell stand ich auf und lief auf die Straße. Ich konnte durch die Menschenmassen vor den Wasserzelten nichts sehen, also lief ich hinüber zu den Containern und kletterte auf einen. Perry folgte mir und wir sahen in die Zonenmitte. Auf der Hauptstraße, lief einige hundert Meter vor uns eine große Menschenmasse. Ich kniff die Augen zusammen und schirmte mit den Händen die Sonne ab. Ich konnte nicht wirklich viel erkennen, nur eins. Die Menschen spalteten sich immer wieder auf, hetzten auf andere Menschen am Rande der Straße zu und warfen diese um! Dann beugten sie sich über die am Boden liegenden. Genaueres konnte man durch die flimmernde Hitze nicht sehen. "Was zur Hölle ist da los?". Perry war so verwirrt wie ich. Unaufhaltsam liefen die Menschen auf uns zu. Und dann waren sie nahe genug, dass ich erkennen konnte, was sie mit den Menschen am Boden taten. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, während ich zusah, wie diese Kreaturen über die Menschen herfielen und sie bissen. Sie bissen, kratzten und stießen dabei ein komisches Röcheln aus. "Alle in die Halle!", riefen einige Leute und keine Sekunde später brach das Chaos aus. Die Luft war erfüllt von Schreien und dem widerlichen Gestank, der immer stärker wurde. Die Leute rannten wie wild auf die Tore der Unterkunft zu. Ein riesen Gedränge entstand, Menschen fielen zu Boden und wurden einfach überlaufen. Ich konnte mich nicht rühren, sondern starrte einfach nur auf die sich nähernden Kreaturen. Sie würden jeden Moment die ersten erreichen. Das Röcheln war jetzt so laut, dass es auch über das Geschrei hinweg zu hören war. "Komm schon, Kris!", Perry reagierte und zog mich mit sich. Über den Container konnte man mit Leichtigkeit durch ein Fenster in die Halle gelangen. Unter diesem Fenster war ein kleiner Balkon, sodass wir alle gut überblicken konnten und auch über eine Leiter hinunter zu den anderen kommen konnten. Jetzt traf die Welle auf die ersten Menschen. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, wie die Monster über Bekannte und Freunde herfielen. Sie bissen ihnen in den Hals, rissen mit ihren Zähnen die Haut auf, kratzten mit ihren Fingern über die Körper. Sofort erschienen in meinem Kopf die Bilder von den ersten Outlandern, die ich gesehen hatte. Ich war vielleicht sechs gewesen, als sie von den Sicherheitsleuten zu den Medizinern gebracht wurden.
Ich konnte sehen, wie unten die Tore allmählich geschlossen wurden, doch die Monster drückten dagegen und drangen so in die völlig überfüllte Unterkunft. Ich sah zu, wie die Menschen, mit denen ich groß geworden bin, langsam aber sicher starben. Ihr Blut strömte über den Betonboden. Immer mehr Menschen wurden gebissen, immer mehr bedeckten den Boden. Ich weiß nicht, wann in den letzten Sekunden, sich etwas in mir verändert hatte, denn ich spürte bei diesem Anblick keinerlei Gefühle. Ich atmete tief durch und versuchte den Geruch den diese Kreaturen ausstrahlten zu ignorieren. Dann sah ich ein letztes Mal über die Körper der Menschen aus Unterkunft 934, meiner Unterkunft. Ich nahm Perry am Arm und zog ihn durch das Fenster zurück auf den Container. Die Monster waren weniger geworden und hinterließen niemanden lebendig, soweit man das von hier oben beurteilen konnte. Ich zog mein Messer, das ich eigentlich nicht haben durfte, aus dem Gürtel und sah, ob in der Nähe irgendwelche dieser Kreaturen waren und schwang mich dann hinunter. Ich blickte mich um, ob Perry mir folgte und entdeckte eine Träne in seinem Auge. Plötzlich packte jemand meinen Fuß. Ich war bereit, mein Messer in den Körper eines Monsters zu rammen, doch es war nur Mr. Magnus. Seine Brust war aufgerissen, mit blutigen tiefen Kratzern übersät. "Lauf, Kristina. Lauf, jedes Leben ist kostbar!", murmelte er. Sein Atem ging schnell und schwer. Ich kannte ihn schon lange. Er war einer der Leute, die mich großgezogen hatten. Ich zog Perry am Arm und rannte los, auf den Wald mit den verbrannten Bäumen zu, immer weiter bis zum Zaun, hinter dem sich die staubige Einöde erstreckte.

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