Der große Sturm

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Kahlees Stimme weckte mich. "Guten Morgen, du Schlafmütze". Sie lächelte mich an und zog die Vorhänge vor dem Fenster zurück. Grelles Licht blendete mich und ich vergrub mein Gesicht schnell wieder in meinem Kissen. "Wie spät ist es?". Es war gerade so richtig bequem in meinem Bett, sodass ich nicht aufstehen wollte. "Zehn Uhr!". Gut, ich musste zugeben, dass ich vielleicht doch endlich aufstehen sollte. Ich hatte Eva versprochen etwas aufzuräumen.
Ich hob den Kopf, hielt mir die Hand vor die Augen und wartete ab, bis ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte. "Ich bin mit Alex wieder unten. Wir sehen uns". Sie lächelte mich noch an, bevor sie aus der Tür ging. Schnell zog ich mich an und ging nach oben, um mir etwas zu essen zu holen. Ich war zum Glück nicht die einzige, die so spät noch frühstückte. Jonah saß mit dunklen Augenringen an einem Tisch und starrte in seinen Becher. "Morgen", begrüßte ich ihn und setzte mich gegenüber hin. "Morgen", murmelte er und sah kurz auf. Ich musste grinsen. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab.

Ich beeilte mich mit dem Essen und begab mich auf die Suche nach Eva. Ich fand sie auf dem Dach, unter der Plane auf einem Stuhl sitzend. Sie redete mit Ollie, doch als ich näher kam lächelte sie mich an und unterbrach ihr Gespräch. "Bist du fertig?". Ich nickte und sah mich noch schnell um. Dusty saß auf unserem Platz, den wir nutzten um Alex und Kahlee zu beobachten. In der Hand hielt er ein Fernglas. "Ja. Lass uns gehen". Ich dachte an Dustys Satz von gestern. Was hatte er mit der Stille vor dem großen Sturm gemeint? Ich musste schon zugeben, dass es heute irgendwie besonders still war und auch kein Wind kam, aber was meinte er mit dem großen Sturm? Einen Sandsturm? Davon gab es hier oft welche, soweit mir das Ollie erklärt hatte.
Ich verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, mit Eva unser Zuhause aufzuräumen. Von der Küche bis zu den Waschräumen. Als wir damit endlich fertig waren, gingen wir wieder nach oben auf das Dach. Hier war mein Lieblingsort. Unter der Plane war es angenehm warm, da die Sonne nicht auf uns herunter knallte.

Ich setzte mich zu Max, dem kleinen Jungen mit den zerzausten Haaren. Er hatte Alex gebeten, ihn mit nach unten zu nehmen, doch das würde ich ihm nicht raten. Ich musste an Alex denken. Dass er gestern den Namen von einem Mädchen, das er liebte sagte, während ich neben ihm lag, war unglaublich verletzend. Tess. Wer war sie? War sie wirklich wie ich? Und was war das für ein komischer Zufall, dass ich hier vier Jahre später auftauchte, nachdem sie weggegangen war.

Max sah sich ein Buch an, konnte aber anscheinend nicht lesen. Mir hatte Mr Magnus das lesen beigebracht. Es war schön, Geschichten von anderen Menschen zu lesen. Sie waren meistens gleich aufgebaut gewesen. Der Anfang war immer realtiv unspektakulär, dann folgte der Teil, in dem sie sich in den jungen Mann verliebte und alle glücklich waren. Mein Lieblingsteil. Danach gab es Streit und es wurde dramatisch. Doch am Schluss gab es immer das happy end. Vielleicht würden Alex und ich auch noch ein happy end haben. "Soll ich dir vorlesen?", fragte ich den kleinen und er nickte begeistert.

"Hey, Leute!", rief Dusty auf einmal. Ich stand auf und ging schnell zu ihm hinüber. Ich konnte nichts ungewöhnliches sehen, auch Kahlee und Alex nicht. "Was ist?". Plötzlich kam Wind auf und trieb mir den bekannten Geruch nach Verwesung in die Nase. Ein Schauer lief mir über den Rücken. "Jemand muss Alex und Kahlee holen", rief Dusty und suchte mit seinem Fernglas nach den Zombies. Wenn ihr Geruch schon zu riechen war, konnten sie nicht weit entfernt sein. "Ich hole sie", hörte ich eine Stimme. Es war Max' Stimme. Ich sah mich um und konnte ihn auf dem Weg zur Treppe erkennen. "Nein! Max!". Auch Dusty reagierte und sprang sofort auf. Er lief so schnell er konnte über die Dachterrasse, ich ihm dicht auf den Fersen. Doch nicht nur wir waren schnell, sondern auch Max. Wir sprinteten die Treppe nach unten und kamen gerade im fünften Stock an, als vor uns die Tür zuflog, die uns von Max trennte. Dusty stemmte seinen Körper mit aller Kraft dagegen, da wir beide sehr gut wussten, dass diese Tür oft klemmte.
Nach ein paar Mal drücken, flog sie knarrend auf. Wir liefen zur Leiter und sahen uns nach Max um. Verdammt, wie schnell war der Kleine? Er hatte die Leiter bereits hinter sich gelassen und rannte zur Hauptstraße. "Max! Stopp!", schrie ich ihm hinterher, doch er hörte mich nicht. Was wenn ihm was passierte? Ich schlug mir den Gedanken aus dem Kopf und stieg die Leiter so schnell es ging nach unten.
Ich sprang in den Sand, der meinen Aufprall dämpfte und sprintete hinter Dusty her. Wieso war er nie hier unten? Hatte er wie ich auch ein Erlebnis mit den Zombies, weswegen er sie jetzt vermeiden wollte. Ich spornte mich an schneller zu laufen. Wir mussten Max einholen. Alex und Kahlee wussten wahrscheindlich bereits von den Zombies und hatten sich versteckt, aber Max nicht.
Das schlimme in diesem Moment war, dass ich mir mehr Sorgen um Alex machte, als um Max. Obwohl ich wusste, dass Alex diese Gegend kannte, dass er bewaffnet war und dass er wusste, was dort draußen war. Ich schämte mich, dass ich mir mehr Sorgen um einen Mann machte, als um einen kleinen Jungen, der sein Leben noch vor sich hatte. Doch dieser Mann war derjenige, den ich liebte.

Wir kamen Max immer näher. "Max, bleib stehen!", schrie Dusty gegen den Wind, der uns die Sandkörner um die Ohren wehte. Und tatsächlich, blieb Max stehen und blickte sich zu uns um. Erleichterung machte sich in mir breit. "Max, du kannst nicht einfach hier runter", versuchte Dusty ihm zu erklären. "Ihr zwei geht zurück, ich suche Alex und Kahlee". Obwohl ich damit nicht einverstanden war, legte ich Max die Hand auf den Rücken und wir liefen zurück.

Aus der Gasse, wo die Leiter war, trat eine Gestalt. Für einen Moment blieb mir das Herz stehen, doch dann erkannte ich Perry. Ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, wenn Perry ein Zombie gewesen wäre.
Plötzlich hallte ein Schuss durch die Luft. Ich blickte zurück. Aus einer Seitenstraße, in der Nähe von Dusty, kamen sie. Hunderte von ihnen. "Dusty", schrie ich und ohne zu zögern rannte ich auf ihn zu. Fünfhundert Meter trennten uns. Und diese Fünfhundert Meter waren verdammt weit. Dusty stand mit dem Rücken zu mir und feuerte Schüsse aus einer Waffe ab. Vier der Zombies gingen zu Boden, doch das hinderte die anderen nicht daran, auf Dusty zu zurennen. Wieso hatte ich mir keine Waffe mitgenommen? Wie blöd war ich denn, vollkommen unbewaffnet hier runter zu kommen. Der Abstand schien nicht weniger werden zu wollen. Der Sand hinderte mich zu sprinten, als würde er nicht wollen, dass ich einem Freund zur Hilfe komme. Immer mehr der Toten strömten aus der Gasse. Immer mehr Verzweiflung machte sich in mir breit. Dusty war zwar schnell, doch die anderen waren schneller.

Was geschah wenn man tot war? Gab es wirklich einen Himmel, in dem wir unsere Freunde treffen würden und alles gut sein würde? Oder war das einfach nur eine Lüge um den Leuten die Angst vor dem Tod zu nehmen? Ich würde meine Mom kennenlernen. Etwas was ich mir schon immer gewünscht hatte. Doch was, wenn nach dem Tod nichts war. Wenn wir einfach von der Dunkelheit verschluckt werden und von Personen zu Erinnerungen werden. Denn das war es, was nach dem Tod passierte. Wir werden zu Erinnerungen.
Man konnte sich alles, was nach dem Tod passieren konnte, ausmalen. Jeder konnte seine eigene Fantasie spielen lassen und sich an einer Theorie festhalten. Und diese Theorie war alles, was jemandem die Angst vor dem Tod nahm, vorausgesetzt diese Überzeugung ist gut genug. Doch im Grunde genommen war es sinnlos, sich vor dem Tod zu fürchten, denn die Frage war nicht, ob wir sterben, sondern wann und wie.

Die Toten stürzten sich auf ihn und er verschwand unter einem Haufen von Körpern. Er schrie nicht, wieso auch? Niemand konnte ihm mehr helfen. Für Dusty war der Zeitpunkt gekommen. Diese wunderbare Person, deren Ruhe die Anspannung der anderen nahm, wurde zu einer Erinnerung. Die Ruhe war dem Sturm gewichen, der jetzt mit voller Kraft über uns hereinbrach.

DustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt