Nadine stand in der Damentoilette des El Cantina vor dem Spiegel und betrachtete sich eingehend. Sie sah mit ihrem wirren Haar und ihren knallroten Wangen aus wie ein gerupftes Huhn, dem man den Hintern versohlt hatte. Schnell spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht, um ihre Blutgefäße und ihren Gemütszustand zu beruhigen. Gott, war das peinlich gewesen! Vom Alkohol derart beflügelt, hatte sie angefangen den albernsten Ideen in ihrem Kopf nachzugehen. Völlig ins sich gekehrt, hatte sie damit begonnen, ihr Essen aus unterhaltungstechnischen Gründen Zweck zu entfremden. Hätte sie sich nicht einen abgebrochenen Zahnstocher unter den Nagel gerammt, würde sie wahrscheinlich jetzt noch dort oben sitzen und mit ihren Kreationen Rollenspiele spielen. Der Schmerz in ihrem Finger hatte ihr eine Pause aufgezwungen und dann hatte sie ihn bemerkt. Er stand an der Bar und starrte sie mit einem dümmlichen Grinsen im Gesicht an. Das Gefühl, ertappt worden zu sein, sorgte für einen Adrenalinstoß, der sie von einer Sekunde zur nächsten stocknüchtern machte. Zunächst war sie so beschämt, dass sie sich kaum traute, sich zu bewegen. Doch irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und flüchtete mit gesenktem Kopf die Treppe hinunter, zur Toilette.
Zuerst hatte sie sich überlegt, einfach den Rest des Abends hier unten vor den Toilettenkabinen zu verbringen, aber sie hatte hier unten keinen Handyempfang und sie musste für Torsten auf jeden Fall erreichbar bleiben, falls es zu Hause Probleme geben sollte. Abhauen bedeutete, sich von Ella verabschieden zu müssen. Aber da sie keine Ahnung hatte, wo Ella steckte und es unmöglich war, sich zu verdrücken, ohne sich vorher vom Geburtstagskind zu verabschieden, saß sie wohl oder übel fest.
Mit einem resignierten Seufzer klemmte sie sich ihren Haargummi zwischen die Zähne und begann ihre Frisur zu richten. Sie würde sich einfach bei Linda und den Junggesellentypen verstecken, beschloss sie, tupfte ihr Gesicht mit einem Papierhandtuch ab und machte sich auf den Weg nach Oben.
Sie stand noch in der Tür zu den Toiletten, als sie mit ihren Blicken bereits die Bar nach dem Kerl absuchte, der vorhin so gestarrt hatte. Zufrieden stellte sie fest, dass er neben zwei scharfen Rothaarigen gelandet war und ihr und ihrem Tisch den Rücken gekehrt hatte. Ein ansehnlicher Rücken wie sie feststellte. Als ihr bewusst wurde, dass sie gerade anfing, ihn mit schief gelegtem Kopf anzustarren, schoss ihr wieder das Blut in die Wangen. Verlegen strich sie ihre Bluse glatt und machte sich auf die Suche nach Linda. Diese schien sich prächtig zu amüsieren. Zwei Männer, die sich wie schwitzende Airbags seitlich an sie drückten, prosteten ihr gerade mit irgendeinem rötlichen Zeug in der Hand zu. Sie prostete bereitwillig zurück. Ihr Lachen war laut und ungehemmt und sie warf in einer gelösten Geste den Kopf in ihren Nacken, als Nadine sie entdeckte. Was Nadine als bedrängend und unangenehm empfunden hätte, war für Linda augenscheinlich richtig spaßig. Nadine lächelte ihre Freundin an und war einmal mehr erstaunt darüber, wie unterschiedlich zwei Frauen doch sein konnten. „Hast du Ella gesehen?", rief Nadine in Lindas Richtung und hoffte, dass ihre Stimme Linda trotz der Männer vor, hinter und neben sich erreichte. Als Linda ihre Freundin entdeckte, streckte sie euphorisch ihre Arme nach ihr aus und winkte sie mit flatternden Bewegungen zu sich hinüber. Nadine setzte einen gequälten Gesichtsausdruck auf, als sie sich durch die Männerkörper zwängte, um zu ihrer Freundin vorzudringen. Diese umarmte sie stürmisch und Nadine musste ihre Frage noch weitere dreimal stellen, bis Linda sie überhaupt verstand.
„Ella ist nach Hause gegangen", rief ihr Linda entgegen und machte dabei ein Gesicht, als wäre es das Normalste auf der Welt, wenn das Geburtstagskind als Erster und ohne sich zu verabschieden die Party verließ. Nadine machte tellergroße Augen und kam nicht umhin, sich ein wenig verarscht zu fühlen. So ein Theater darum, dass sie unbedingt mitkommen sollte und im Endeffekt war ihre Anwesenheit völlig irrelevant.
„Sie hat ihren Ex getroffen. War wohl komisch für sie." Linda zuckte die Achseln und genehmigte sich noch ein Schnapsglas mit roter Pampe. Soweit das überhaupt möglich war, wurden Nadines Augen jetzt noch größer. Ihre Augenbrauen sahen jetzt aus, wie zwei perfekt geformte Mondsicheln, die in Ohnmacht gefallen waren. Na, auf diese Geschichte war sie gespannt.
YOU ARE READING
Schneeglöckchenzauber
RomantiekDie verschlossene Nadine glaubt nicht an die klassisch romantische Liebe. Aber dafür umso mehr an die bedingungslose Liebe zu ihrem Sohn Fynn. Sie ist Mutter mit Leib und Seele und will Fynn all das bieten, was sie selbst in ihrer einsamen Kindheit...