2| Meeresblaue Augen. Wie alles begann und endete.

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2| Meeresblaue Augen. Wie es begann und endete.

Ich war nie ein Fan von Perfektion gewesen.

Mal ganz besonders davon abgesehen, dass ich selbst keine Verkörperung dieser - wie soll ich es nennen? - fast schon sozialen Plage war. Ich hielt nicht viel von der Vollkommenheit eines Wesens oder den Standards der Gesellschaft. Zumindest nicht wenn es um mich ging.

In Bezug auf Quinn, dem Jungen der nicht immer perfekt gehandelt hatte, aber immer perfekt war, war das etwas anderes gewesen. Ich hatte sowieso keinen Einfluss darauf, ob ich ihn perfekt fand oder nicht - ich verliebte mich in ihn und das reichte. Wenn man sich verliebt, macht die Liebe jeden Makel perfekt. Man hat gar keine Wahl, sie macht was sie will - mit uns und unseren Wahrnehmungen.

Also, wie auch immer - nicht ich machte ihn perfekt, sondern das Gefühl, das ich bekam, wenn er mich ansah, berührte oder mit mir sprach.

Ich wusste, dass Perfektion durchaus in meinem Leben vorhanden war, nur nicht in dem, das Quinn ausgrenzte. Ohne ihn war nichts perfekt, weil ich eine Katastrophe war. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn immer schon. Selbst als wir nur schwirrende Atome in der Unendlichkeit waren, noch bevor wir Zugang zur Welt gewährt bekamen. Er war mein Südpol, meine linke Hand, meine bessere Hälfte. Und ich war mir immer sicher: Katastrophen passierten nicht einfach so, irgendwie und irgendwo. Katastrophen waren Gefühlsstürme des Universums. Es hatte mich nicht ohne Grund an den Zaun seines Gartens gewirbelt.

Es ist ein milder Tag. Ungewöhnlich, doch sehr angenehm, für diesen heißen Sommer im Jahr 2002. Der Wind ist frisch, das Meer rauscht an der Küste, Klein Ginny macht der Sonne Konkurrenz. Sie strahlt über beide Ohren, als sie den Jungen des Nachbarhauses erblickt. Sie hatte ihn schon öfter durch das Panoramaglas ihres Wohnzimmers beobachtet und betrachtet, er wirkte faszinierend auf das kleine Mädchen.

Er sitzt gelassen auf der Stufe der Veranda im Hintergarten, schleckt ein Eis. Orange-leuchtend ist es, fast genauso wie der kopfgroße Ball in den Händen Klein Ginny's. Sie spürt die sanfte Wärme der Sonne auf den Wangen in ihrem Gesicht, alles riecht nach Sommer. Nur die Luft wird immer dicker. Ihr Instinkt wird immer lauter.

Sie möchte mit ihm spielen, er soll sie auch einmal beachten. Also wirft sie ihren Ball und sie kann nicht wissen, dass genau das, diese kleine Geste, diese winzige Entscheidung, der Beginn vom Ende ist.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich es mir ein zweites Mal überlegen dürfte, ich es trotzdem getan hatte. Auch mit dem Wissen wie es enden würde. Ich hätte niemals auf Quinn verzichtet.

Das Spielzeug macht einen Bogen über den niedrigen Gartenzaun, fliegt auf den Nachbarsjungen zu, trifft. Sein Eis fällt auf den grünen Rasen. Der kleine Junge blickt auf, verfolgt mit den Augen die imaginäre Spur, die der Ball zurückließ. Blau trifft auf Grau.

Als wir uns in die Augen sahen, wurde es besiegelt. Ein Wirbelsturm gegen eine Sommerbriese.

Zerstört.

Die kleine Ginny freut sich über seine Aufmerksamkeit, denkt nicht an das Missgeschick. Sie kichert, sie strahlt, sie winkt ihm zu. Der Wind zwirbelt ihre Haare in seinen Fingern, die Luft wird dicker. Instinkt ruft: „Du musst wieder rein!"

Doch Ginny ignoriert die Stimme in ihrem Kopf, sie kichert, als sie sieht wie der Nachbarsjunge auf sie zugestürmt kommt und beinahe über seine eigenen Beine stolpert. Ihr Instinkt schüttelt den Kopf.

Er steht schließlich vor dem hüfthohen Zaun, er sieht verärgert aus. Das sieht Klein Ginny aber nicht. Sie ist begeistert, doch ihr Instinkt wird lauter. Sie weiß, dass sie leidet, doch sie bleibt stur. Das ist ihre Chance.

„Magst du mit mir spielen?"

Das kleine Mädchen scheint überglücklich. Doch die nächste Sekunde zerstört.

„Nein!", ruft der Verärgerte bockig aus. „Hau ab!", legt er gleich noch hinterher.

Vielleicht ist es ihr vierjähriger, kindischer Instinkt, der ihre Reaktion auslöst. Vielleicht ist es auch einfach nur übertrieben. Sie fängt an zu weinen, fühlt sich weggestoßen. Ein seltsames, unbekanntes Gefühl übermannt sie. Ein Gefühl, dass so klein ist, dass es nichts Besonderes sein kann, und doch so groß, dass es ihren Tränen freien Lauf gewährt.

Ihr Instinkt schaltet wieder ein, er fühlt sich im Recht, denn er hatte sie gewarnt. Er muss sein Mädchen beschützen, auf sie Acht geben und deshalb läutet er nun endlich die Alarmglocken.

Klein Ginny beginnt aufzuhusten, inzwischen ist die Luft so dick, dass sie sie kaum noch atmen kann. Die unbedeutende Abfuhr ist vergessen, Quinn, der entsetzte Nachbarsjunge vor ihr, ist vergessen, der Geruch des Sommers ist vergessen. Alles ist vergessen. Aus ihren Tränen werden Krokodile.

Es muss mehr als ein glücklicher Zufall sein, dass ihre Mutter genau in diesem Moment zum Mittag ruft. Sie tritt in den Garten, erkennt den Moment und stürmt los. Ohne an etwas anderes zu denken, schnappt sie ihren kleinen, kostbaren Schatz und stürmt zurück ins Haus. Der kleine Schatz keucht inzwischen, sehnt sich nach reinem Sauerstoff. Doch sie hat keine Angst. Sie ist der Wirbelsturm in einem Unwetter. Alle anderen fürchten sich vor ihr.

Nach einigen Minuten erklärt ihr Instinkt die Lage für entschärft. Ginny jedoch war niemals in Sorge. Sie litt, doch das ist für sie längst kein Grund in Panik zu verfallen. Sie sieht Leid nicht als Schmerz. Leid ist ein Erfolg.

Er wird es noch schwer haben mit seinem Mädchen. Denn sie hat nie halb so viel Angst wie er.

Während sie nun wieder an ihr Beatmungsgerät gebunden ist, winkt sie erfreut dem kleinen Quinn zu. Er steht in ihrem weiten Wohnzimmer, weder sie noch ihre Eltern stört sein Eintreten. Für Klein Ginny ist noch immer alles vergessen, das gesamte Szenario. Ihre Tränen sind versiegt, ihre Eltern überbesorgt, der kleine Nachbarsjunge noch immer faszinierend. Für sie hat sich nichts geändert. Fast.

Er wirkt vollkommen aus der Bahn geworfen, er weiß nicht wohin mit all dem. Was ist gerade passiert? Was ist los? Wieso und warum und überhaupt, was macht er hier?

Weder Quinn noch ich, konnten uns diese Frage je beantworten. Doch letztendlich machte es auch keinen Unterschied. Wir haben es nie ausgesprochen, doch für uns stand fest: so oder so hätten wir uns gefunden.

„Darf ich meinen Ball zurückhaben?"

Der kleine Junge scheint perplex. Vermutlich versteht er nun überhaupt nichts mehr. Doch Klein Ginny geht es wieder gut, sie befindet sich im grünen Bereich und auch ihr Instinkt macht eine kleine Pause.

Sie weiß nicht, was es damals war, doch der Junge, den sie schon immer so faszinierend fand, entscheidet sich dafür, sein Leben mit ihr zu verbringen. Zumindest einen Teil davon. Und vielleicht ist das gar nicht mal so gut, vielleicht ist es sogar schlimm. Denn Katastrophen zerstören.

Doch das Schlimmste, das ich nach allem endlich begriffen habe, ist die Tatsache, dass Katastrophen nicht einfach nur eine Zerstörung sind. Sie zerstören ihr Umfeld, ihre Heimat, Menschen und Träume, Hoffnungen. Einfach alles. Und Quinn war immer schon all das gewesen. Meine Heimat, mein Traum, meine Hoffnung.

Zerstört.

Unter Wasser kannst du auch nicht atmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt