1| Kindheit ist wie ein Traum. Verschwommen und vergänglich.

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1| Kindheit ist wie ein Traum. Verschwommen und vergänglich.

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„Ginny?“

Das kleine Mädchen mit den dunklen Zöpfen, die an den Seiten ihres Kopfes abstehen, reagiert nicht auf die helle Stimme des Mannes vor ihr. Sie konzentriert sich auf die orangefarbene Linie, die sie mit ihrem Wachsmalstift auf dem grauen Papier hinterlässt. Ihre Mundwinkel sind nach oben gezogen, in ihren Augen spiegelt sich der farbenfrohe Schmetterling wieder.

„Kleine Ginny, was malst du da?“, fragt sie der Mann und hockt sich jetzt auf ihre Höhe, die Hände locker zwischen seinen Beinen hängend. „Malst du den kleinen Kerl da?“, lächelt er sanft mit einem Blick zu dem geflügelten Wesen, einige Zentimeter von den Beiden entfernt.

Das Mädchen lächelt, nickt und gibt einen zustimmenden Laut von sich. Dann legt sie ihren Stift weg und sucht in dem kurzen Gras neben sich nach dem Wachsmalstift mit dem schönen Hellblau.

Ihr Betreuer lächelt sanft. „Aber der hat ja überhaupt keine orangenen Flügel. Und sieh nur – seine Fühler sind auch nicht grün!“, sagt er gespielt entsetzt und betrachtet neugierig das Gesicht des Kindes.

Sie kichert. „Das ist ja auch gar nicht der Schmetterling dort! Das ist seine Freundin Colora!“, lacht sie und strahlt den jungen Mann an. Er macht ein erstauntes Gesicht.

„Hast du nicht gerade gesagt, das wäre der Schmetterling, den du malst? Hast du mich etwa veralbert?“ Sie kichert fröhlich und nickt so stark, dass ihre Zöpfe hin und her wippen.

„Na du bist aber eine ausgefuchste! Ganz schön frech, kleine Ginny.“ Wieder lacht sie, er sieht sich suchend um. „Wo ist denn seine Freundin? Ich kann sie hier gar nicht sehen.“

„Sie ist weggeflogen“, sagt sie mit ihrer hohen Stimme klar und deutlich.

„Oh, warum das denn?“

Wieder kichert die Kleine. „Na wegen dir!“

Empört fasst sich ihr Betreuer mit der flachen Hand an die Brust. „Wegen mir?

Kindergelächter, das vertraute Quietschen einer Schaukel und das Geräusch eines Rasenmähers in der Nähe erfüllen die Sommerluft mit Geräuschen.

„Ja“, grinst sie. „Du hast ihr Angst gemacht, als du gekommen bist“, sagt sie und beginnt die Flügel mit hellblauen Punkten zu versehen. „Weil du so riesig bist.“

Ihr Betreuer schweigt kurz, dann sagt er: „Sie ist ein sehr schöner Schmetterling, nicht wahr?“

Das Mädchen nickt. „Aber jetzt ist sie ganz alleine.“

„Dann habt ihr ja schon zwei Gemeinsamkeiten. Warum spielst du nicht mit den anderen Kindern, kleine Ginny?“

Das Mädchen beginnt Wolken auf ihr Papier zu kritzeln. Ohne aufzublicken sagt sie wahrheitsgemäß: „Es macht mir keinen Spaß. Ich habe immer Schmerzen, wenn ich mit ihnen Fange oder verstecken spiele. Ich bekomme nicht gut Luft.“

Der Betreuer nickt. „Das tut mir leid, Liebes. Ich weiß, das ist nicht leicht. Aber warum setzt du dich nicht einfach zu den anderen Mädchen und ihr spielt mit ein paar Karten oder baut ein paar Türme?“

Klein Ginny schüttelt den Kopf.

„Warum nicht?“

Klein Ginny zuckt mit ihren zarten Schultern.

Ihr Betreuer seufzt. „Ach, kleine Martin. Was machen wir nur mit dir?“

Das Mädchen zuckt erneut ihre Schultern, wechselt den Stift, ehe sie plötzlich wieder beginnt zu niesen. Gleich noch einmal und noch einmal. Ihr Betreuer seufzt leise und das kleine Mädchen wird schlagartig traurig. Jetzt muss sie reingehen, sich künstlich beatmen lassen und warten, bis ihre Mutter sie abholt. Jetzt kann sie die warme Luft und den Geruch des Sommers nicht mehr genießen, sie wird wieder eingesperrt. Sie mag das nicht. Sie hasst es.

„Na los, komm. Die Blüten sind nicht gut für dich.“

Als sie sich beide erheben, fliegt auch der Zitronenfalter aufgeschreckt von seinem Grashalm weg. Mit Tränen in den Augen sieht das kleine Mädchen ihm hinterher und hofft, dass er seine Freundin finden wird. Oder zumindest, dass er es besser haben wird, als sie selbst.

An mehr von ihrer Kindheit, konnte sie sich nicht erinnern.

Ich hatte, ehrlich gesagt, nie viel darüber nachgedacht, wie mein Leben einmal sein würde.  Sondern immer nur daran, wie es war und wie es hätte sein können. Ich lebte nie in der Realität, sondern in einer Welt der Konjunktive. Und der Größte von ihnen war eine einzige Frage, die ich mir immer und immer wieder gestellt hatte: Was wäre wenn?

Was wäre, wenn ich nicht ich wäre? Was wäre, wenn es ihn nicht geben würde? Was wäre, wenn nichts von all dem passiert wäre, was wenn ich normal und gesund zur Welt gekommen wäre und verdammt nochmal, was wäre, wenn ich mich nicht in ihn verliebt hätte?

Lauter W’s, die mich nachts unruhig machten und mir tagsüber die Nerven raubten. Aber allem voran stellte sich mir eine ganz andere Frage: Was zur Hölle hatte ich dem Universum getan, dass es ausgerechnet mich mit diesem Fluch belegt hatte?

Egal, welche der Fragen und wie oft ich sie mir gestellt hatte – ich fand nie eine Antwort. Zumindest schien es nie eine Antwort darauf zu geben, ich meine, wieso auch? Das Schicksal ist kein Quiz, das man lösen kann, es ist ein Ausrufezeichen inmitten von nichts. Alles was existiert ist das Darum und uns bleibt nichts übrig, als es zu akzeptieren.

Diese Tatsache hatte ich relativ schnell begriffen, ich hatte es mir oft genug eingeredet und dennoch konnte ich es nicht lassen, dieses Ausrufezeichen mit meinem eigenen zu beantworten. 

Aber manchmal ist es zwecklos Fragen zu beantworten, die dafür nicht gemacht worden sind, genauso wie den Dingen hinterherzutrauern, die uns verlassen haben.

Doch wie könnte ich einen kleinen Schmetterling von Millionen mit einem Jungen wie ihn vergleichen?

Unter Wasser kannst du auch nicht atmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt