0| Man kann nicht immer auf seinen Instinkt hören. Aber man sollte es.

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0| Man kann nicht immer auf seinen Instinkt hören. Aber man sollte es.

Die eigene Geburt - jeder war dabei, doch niemand kann sich daran erinnern. Dabei ist sie Bestand aus all unseren wichtigsten ersten Ersten Malen.

Wir schlagen die Augen zum ersten Mal auf, wir fühlen zum ersten Mal, wir hören zum ersten Mal. Wir atmen zum ersten Mal selbstständig. Wir schreien zum ersten Mal.

Ob vor Qual oder Freude, Langeweile oder Angst, das wissen wir nicht einmal selber. Wir tun es einfach, weil es unser Instinkt als richtig empfindet. Er sitzt in unserem Gehirn und befiehlt uns: Los! Jetzt bist du da, mach dich aufmerksam, du musst schreien!

Und wir hören auf ihn, wir verlassen uns darauf, weil er in diesen ersten Minuten und später Jahren unseres Lebens unser persönlicher Ratgeber und Führer durch Genanntes ist.

Es dauert unterschiedlich lange, bis wir bemerken, dass wir aufhören können zu heulen, dass uns nicht mehr kalt ist, weil wir mittlerwele in warmen Decken eingehüllt worden sind, dass wir uns nicht mehr einsam fühlen, weil man uns inzwischen unserer überglücklichen Mutter übergeben hat. Bis wir merken, dass wir nicht mehr herumkreischen müssen, weil wir schlafen wollen, denn wir tun es bereits und dass wir schon längst wahrgenommen wurden und unser Instinkt entschärft die Lage, er sagt: Alles roger, du bist hier gut aufgehoben, lass uns ein bisschen ausruhen.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, bis mir mein Instinkt versichert hat, dass ich endlich die Klappe halten kann. Denn wie gesagt - niemand kann sich an seine ersten Atemzüge, an seine allerersten Taten erinnern.

Meine Eltern haben mir manchmal erzählt wie es war, wie es war, als ich einen Monat zu früh auf die Welt gekommen war.

Aber um ehrlich zu sein kann ich mir damit auch kein vollständiges Bild malen. Sie gaben mir die groben Details, sie erzählten es in einer furchtbar langweiligen Allgemeinheit, Brocken von Fakten.

Sie spielten es herunter, obwohl ich es nicht wollte. Ich wollte alles wissen, jedes noch so unwichtige Detail, doch besonders die entscheidenden. Ich war kein Kind, das geboren wurde und fertig war's. Bei mir lief das etwas anders, ich trug eine Behinderung in mir - wie konnten sie dann um den heißen Brei herum reden?

Sie erinnerten sich nicht gern an diese Nacht, die letzte Stunde vom 29. November, sie versuchten es zu verdrängen.

Mom hat mir gesagt, dass es schmerzhaft war zu erfahren, dass ich krank bin, es bleiben würde. Sie und mein Vater waren verzweifelt, verängstigt und voller Sorgen, fast schon panisch. Das und die Details - mehr sagte sie dazu nicht.

Ich wollte trotzdem dabei sein. Da ich mich daran natürlich nicht erinnern konnte, malte ich es mir abends, wenn ich im Bett lag, aus. Ich starrte an die Decke und stellte mir vor, wie ich plötzlich einen Platz in dieser Welt hatte.

Es ist eigentlich ganz simpel. Ein Kind wird geboren, doch es schreit nicht. Denn es kämpft.

„Sie schreit nicht." Mein Arzt sieht mich sorgenvoll an, wiegt mich in seinen Händen. Das Zimmer ist von mehreren Neon-Lampen erhellt, die Vorhänge sind zugezogen.

„Was ist los? Warum schreit sie nicht, was ist mit ihr?"

Meine Mutter sieht mich panisch an, wie ich in den Händen Dr. Collin's liege - wie er mich nachdenklich betrachtet. Er weiß die Antwort nicht, er wartet ab.

„Warum ist sie so ruhig, sie sollte doch schreien, oder nicht?", hakt sie nach, wobei sich nach der anfänglichen Erleichterung Tränen in ihren Augen bilden. Hilflos sieht sie ihren Mann an, der noch immer ihre Hand fest in seiner hält, er kann nichts erwidern, denn er weiß es auch nicht und selbst wenn - seine Stimmbänder verweigern ihm den Dienst.

Unter Wasser kannst du auch nicht atmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt