Zwei, drei Minuten sitzen wir einfach nur da, bis die Stille für mich unerträglich wird. "Ich bin Leslie." Er reagiert nicht. Ich nimm einen tiefen Atemzug um genügend Kraft zu sammeln, damit ich diesem Ignoranten meine Meinung sagen kann! Vorher besinne ich mich aber darauf, dass ich ihm wahrscheinlich mein Leben verdanke und beschließe, dass ich es erst mal mit einfühlsamen Reden versuche, ihn aus seinem unsichtbaren Käfig zu locken. Dabei gehört das nicht gerade zu meinen herausragendsten Charaktereigenschaften: "Klar, das ist jetzt irgendwie eine blöde Situation. Das Haus bricht ziemlich sicher unter uns zusammen, ich habe keine Ahnung wie wir hier rauskommen sollten und Hilfe scheint auch nicht zu kommen. Das ist aber noch lange kein Grund unfreundlich zu sein! Gott, wir leben hier in einer Zivilisationsgesellschaft!"
Wieder dieser ausdruckslose, blaue Blick. Ich lege ihm meine Hand auf seine Schulter und will gerade zu weiteren Worten der "Beruhigung" ansetzen, als er mich anschreit: "Fass mich nicht an, du dumme Schlampe!" Erschrocken von so einem ungezügelten Gefühlausbruch, weiche ich zurück und starre ihn verwirrt an. Und sehe puren Wahnsinn in seinen Augen. Aber nur für einen Moment, dann kehrt sein alter Blick zurück. Ich bemerke, dass ich zittere. 'Ich habe Angst vor ihm', schießt es durch mein überfordertes Gehirn. Es muss doch eine Möglichkeit geben hier rauszukommen... Springen? Dritter Stock. Schlechte Idee... Raum verlassen? Riskant. Lieber nicht... Hilfe rufen? Ein Versuch ist es wert!
Ich gehe also zu einem der Fenster, darauf bedacht möglichst viel Abstand zu diesem kranken Jungen zu halten. Er starrt nach wie vor autistisch vor sich hin. Ich schreie, so laut wie es meine vom Rauch noch angekratzte Stimme ermöglicht: "Hallo? Wir brauchen Hilf... Verdammte Scheiße!" Ich hatte nicht bemerkt, wie der Kerl zu mir gekommen ist, aber jetzt spüre ich seine muskulösen Finger wie sie sich in meine Schultern graben und mich gegen eine Wand drücken umso mehr. "Sei still, du dämliche Idiotin! Willst du das sie dich hören?" "Ähh, ja. Genau das war mein Anliegen." Er blickt sich gehetzt um. "Wenn sie dich bemerkt haben, werden sie uns beide umbringen! Wir werden nicht mehr leben!" In seinem rechten Auge glitzert eine Träne, die das konfuse Blau seiner Iris spiegelt. Ich spüre wie sein Griff nachlässt und nutze die Gelegenheit mich ihm zu entwinden.
Als er meine Regungen erkennt, stoßt er mich brutaler als zuvor zurück gegen die Wand und holt ein Klappmesser aus seiner Hosentasche, das er mir gegen den Hals drückt. Die ganze Verletzlichkeit von vorhin ist aus seinem Blick gewichen. Nun ist er scharf und drohend: "Versuchst du noch einmal Aufmerksamkeit zu erregen, schlitze ich dir eigenhändig die Kehle auf!" Ein Tropfen warmes Blut sickert meinen Hals hinunter und verteilt sich am weißen Kragen meines Pullovers. Ich muss schlucken und nicke dann vorsichtig. Er erscheint zufrieden mit seiner Darbietung und lässt von mir ab. Ich bemerke, dass ich das Atmen vergessen hatte und erst einmal nach Luft schnappen muss. Sein Blick ist wieder der alte. Emotionslos, nichtssagend. Er geht ohne mich noch einmal anzuschauen zurück zu dem Stuhl auf dem er auch vorher gesessen hatte. Ich wage nicht mich zu bewegen. Wer ist dieser Junge?
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