Ich grabe in den dunklen Gängen meiner Gedanken, ob ich irgendetwas über diesen Jungen weiß. Ich glaube nicht, dass ich ihn in der Schule jemals gesehen habe. Er sieht älter aus als ich, vielleicht 17, aber das kann täuschen. Er hat eine schmale Nase, dünne Lippen, hohe Wangenknochen. Eigentlich ganz hübsch, würde ich ihn in einer anderen Situation sehen, könnte er mir womöglich gefallen. Wären da nicht diese irren Augen und die eingefallenen Wange. Seine schlichte Kleidung hängt träge an seinem mageren Körper herab, als warte sie nur darauf befüllt zu werden. Das war mir vorher nie aufgefallen. Zuerst war er der Retter, dann der Feind, aber er stand immer über mir und meine Augen sahen was sie sehen wollten: Einen starken, geheimnisvollen Mann. Jetzt sehe ich was er wirklich ist: ein verletzter, kranker Junge, vor dem ich Angst habe. Er musste meinen musternden Blick bemerkt haben, denn er dreht seinen Kopf in meine Richtung und starrt mich an, was mir eine Gänsehaut bereitet. Unwillkürlich drücke ich mich fester gegen die Wand, die ich hinter meinem Rücken schon fast vergessen hatte. Und auf einmal überrollt mich eine Welle der Wut. Was bildet der Kerl sich ein, mich einfach zu bedrohen? Für wen hält der sich?
"Was ist dein Problem? Was habe ich dir getan? Du hast kein Recht darauf mich so zu behandeln!", schreie ich und im nächsten Moment schäme ich mich dafür. Ich habe mich angehört wie ein trotziges Mädchen, das sein Eis nicht bekommt. Doch es scheint ihn zu überraschen. Also lege ich noch etwas drauf: "Ich werde jetzt von hier verschwinden und dafür muss ich zum Fenster gehen. Es ist mir scheißegal, was du hier machst. Meinetwegen kannst du im Feuer verrecken. Ich hau ab und du wirst mich nicht aufhalten! Dein Messerchen kannst du dir sonst wo hin stecken, du bescheuerter Psychopath!" Ich hole Luft und will zu weiteren Beschimpfungen, die ungefähr auf diesem Niveau liegen, ansetzen als er aufsteht und auf mich zukommt. Doch etwas hat sich an ihm verändert. Seine Schritte sind leichter, seine Haltung gerader, seine Hände offen. Und sein Blick, sein Blick ist sanft. Es ist ein Blick, in dem man sich verlieben kann. "Du verstehst das nicht. Es geht hier um mehr als um dich oder mich. Sie dürfen mich auf keinen Fall kriegen. Sie dürfen uns nicht kriegen." Mir ist vorher nie aufgefallen wie wunderschön seine Stimme ist. Sie ist rau und dunkel, wie die von Hans, der uns früher oft Geschichten vorgelesen hatte. "Wieso denkst du das?" "Ich weiß es. Aber ich kann es dir nicht sagen. Ich kann dir nur sagen, dass wir unauffällig bleiben müssen." "Wie soll ich dir vertrauen, nachdem du getan hast, was du eben getan hast." Meine Stimme klingt weinerlich. "Ich weiß es nicht. Aber du musst. Zu viel hängt davon ab. ALLES hängt davon ab!" Er fängt an, wie wild mit den Armen zu gestikulieren. Ich muss ein bisschen lächeln. Süß sieht er aus. Er erinnert mich an meinen kleinen Bruder. Der rudert auch immer so verrückt mit den Armen, wenn er aufgeregt ist. Gleichzeitig geht mir der Gedanke, dass ich ihn vielleicht nie wieder sehen werde durch den Kopf. In der anderen Welt versunken, hatte ich nicht bemerkt wie der Junge ruhig geworden ist. Jetzt steht er still da und murmelt immer wieder: "Alles hängt davon ab." Immer wieder und wieder und wieder und wieder. Dabei schaut er auf den Boden und scheint mich vergessen zu haben. Langsam entferne ich mich von ihm. Wie konnte ich nur eine Sekunde glauben, er wäre süß oder gar normal?
Da kracht etwas in dem Stockwerk unter uns und reflexartig suchen meine Hände Halt. Das Feuer! Ich hatte es ganz vergessen. Dabei war es doch ein elementarer Teil dieser Geschichte. Ich gehe zu einem Fenster und schaue hinunter. Unter ihm befindet sich ein Vorsprung, an dem ich mich zu dem Regenrohr ein paar Meter weiter rechts schieben könnte. Und an dem könnte ich mich dann herunterhangeln. Wenn ich Glück habe, würde ich nicht an der Fassade abrutschen und das Regenrohr hält meinem Gewicht stand. Wäre ich Jason Bourne, wäre das sicher kein Problem! Aber in Sport bin ich nicht einmal das verhasste Seil hoch gekommen, wie sollte ich dann diese Bond-mäßige Klettereinheit überleben? Vielleicht Adrenalin! Ein Adrenalin-Kick, der in mir ungeahnte Kräfte entfacht! So wie eben, als ich die Stimme von dem Jungen gehört habe. Aber jetzt gerade fühle ich mich in erster Linie müde. Ich lehne mich ein wenig auf das Fensterbrett um die Halterung der Regenrohr genauer zu betrachten, was der Typ wohl falsch interpretiert denn plötzlich ruft er -fast schon panisch: "Nein, lass mich nicht allein!" und nach einem kurzen Zögern fügt er ein klägliches "Bitte" hinzu. Ich drehe mich um und zucke ein wenig zusammen, denn er steht nun direkt vor mir. Ich wundere mich wie er sich derart schnell und lautlos bewegen kann, aber allzu viel Gedankenkraft verschwende ich jetzt nicht auf diese ungelöste Frage. Unsere Nasen berühren sich beinahe und ich spüre seinen heißen Atem in meinem Gesicht. Die Sprenkel in seine Augen leuchten.