Doch in diesem Moment spüre ich nur einen lähmenden Schmerz mein Bein hochwandern. Der Boden hat mich erreicht und ist mit voller Wucht eingeschlagen. Verzweifelt versuche ich noch mit einer mehr oder weniger gelungenen Judo-Rolle die Schäden zu minimieren, was mir nur teilweise gelingt. Ich schlage hart mit dem Rücken auf. Mein Kopf ist völlig vernebelt und ich kann nicht sagen was um mich herum passiert. Alles verschwimmt, dreht oder verdoppelt sich. Ich fühle das Gras unter mir, kann es aber nicht einordnen und muss mich daran erinnern zu atmen. Nur langsam verfestigt sich die Welt vor meinen Augen wieder. Ich versuche die Situation zu erfassen und schaue an mir runter. Meine Füße scheint es schwer erwischt zu haben. Der Winkel in dem sie abstehen sieht unnatürlich aus. Meine Rippen scheinen angeknackst zu sein und die ein oder andere Prellung war wohl auch unvermeidbar. Tränen schießen mir in die Augen und ich schaue mich um, egoistisch wartend auf Hilfe. Da sehe ich ihn. Vollkommen gebrochen liegt er da im Gras wie eine zertrampelte Blume. Ich robbe vorsichtig zu ihm hin und betrachte ihn. Was ich sehe ist viel Blut, das aus seiner Bauchgegend zu kommen scheint. Ansonsten nichts. Überall rot. Es ist als habe er sich in dem Blut aufgelöst. Als wäre es nauch außen gedrungen um ihn sich einzuverleiben. Vergeblich suche ich nach ihm in der Masse bis ich schließlich in seine Augen sehe. Ausdruckslos, wie bei unserem erste Blick.
Er weiß was ihm bevorsteht, er wusste es die ganze Zeit. "Leslie...", seine Stimme klingt fremd, "du musst etwas tun." Die Wörter erreichen mich ohne dass ich sie verstehe. Ich lege meine Hand auf seine Brust und fahre mit ihr über seinen Hals bis zur Wange. Wie weich sie ist. Er kam mir so unzerstörbar vor. Unantastbar für die Außenwelt. Doch jetzt wird mir klar, dass er bloß in einer Blase gelebt hat, die ihm vor allem scheußlichen bewahrte. Diese Blase platzte als er mir die Wahrheit gesagt hatte. Er ist nun einer von uns. Und er braucht Hilfe. "Leslie!", ihm geht die Luft aus. "Was soll ich tun?" "Zayn, du musst zu ihm gehen. Du bist in Gefahr. Er kann dich schützen." "Mich schützen, wovor?" "Er wird dir alles erklären können." Nicht weit entfernt wird ein weiterer Schuss abgegeben, passend dazu das schrille Schreien der Panik. "Du musst hier weg", etwas Blut sickert aus seinem Mund.
Ich kann das nicht mit ansehen. Ungeschickt schiebe ich meine Arme unter seinen Körper und versuche ihn hochzuheben. Zwei Schmerzensschreie hallen durch den Schulgarten und ich sinke wieder auf meine Knie. Ich kann mit meinen zerstörten Füßen nicht einmal mich selbst tragen, wie könnte ich da ihn stemmen? "Du kannst mich nicht retten", ein bitteres blutiges Lächeln wagt sich in sein Gesicht. Er atmet nur noch schwer. "Verdammt..." eine Träne rollt über meine Wange und ich nehme seinen Kopf zwischen die Hände. Und ich küsse ihn. Er erwidert den Kuss nicht. Seine Augen sind geschlossen. Kalte Panik erfüllt mich. Verzweifelt rüttel und schlage ich ihn. "Du wirst jetzt nicht sterben! Das darfst du nicht! Ich kann Hilfe holen! Ich kann dir helfen! Ich kann dir helfen!", ich habe keine Kontrolle mehr über mich selbst. Ich probier mich an einer Herzmassage ohne wirklich zu wissen wie das geht. Ich trommel bloß wirr auf seiner Brust während ich "Stayin' Alive" summe.
"Ich liebe dich!", brichte es aus mir heraus.
Ohne die Augen zu öffnen haucht er seinen letzten Atemzug aus: "Du brauchst mehr als bloß Liebe." "Nein", die Tränen fließen wie Wasserfälle, "was meinst du damit? Bitte." Sein Körper erschlafft. Er ist tot. Er ist tot. Er ist tot. Nein, er darf nicht tot sein. Ich versuche seine Augen zu öffnen und erschrecke als ich nur noch die glasigen, seelenlosen Hüllen seiner Augen sehe. Er ist tot. Ich fahre mit meiner Hand die Konturen seines Gesichtes nach. Wie kann er mir das antun? Kniend und verletzt verharre ich neben ihm. Wie soll ich jetzt noch weitermachen können? Ich brauche ihn. Er hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt und jetzt lässt er mich im Stich? Ich lege mich ins Gras neben seinen leblosen Körper und schließe die Augen. Das ist der Moment in dem ich mit meinem Leben abschließe, in dem alle Kraft verflogen und der ganze Wille verbannt ist. Ich verliere mich selbst.
Irgendwann reißen mich zwei starke Arme von ihm weg. Ich fange an zu schreien, ich will nicht von ihm weg. Irgendwer stülpt mir einen Leinensack über den Kopf. Was passiert hier? Ich kann ihn noch nicht verlassen. Nicht so schnell.