~ Untertauchen

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Manche schwimmen mit dem Strom, manche dagegen.
Ich für meinen Teil will am liebsten einfach untertauchen.

So lange, bis mein Kopf brummt, ich nur noch schwarze Flecken sehe und mein Bewusstsein langsam schwindet. Damit ich mir keine Gedanken mehr über diesen Scheiß machen muss.

Es ist komisch, meine Freundinnen alle auf einmal zu sehen. Französisch ist die einzige Stunde, die wir alle gemeinsam haben. Sonst hängen wir immer getrennt voneinander irgendwo in diesem Gebäude herum. Wir sehen uns dauernd, aber es sind so kleine, bedeutungslose Begegnungen am Gang, die man sofort wieder vergisst.

Da ist Tamara, links vorne von mir. Ihr dunkelbraunes, brustlanges Haar ist zu dem sportlichen Pferdeschwanz drapiert worden, den sie jeden Tag trägt. Er sieht so perfekt aus, ich hasse ihn.
Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten, genauer gesagt, seit sie mit neun Jahren in meine Siedlung zog. Sie trägt schon seit zehn Jahren dasselbe Brillenmodell, eine dunkle Nerdbrille, aber sie passt zu ihr.

Irgendwie weiß ich nicht, warum wir uns immer noch treffen. Vielleicht ist es die Pflicht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, da es schade wäre, die eine Dekade lange Freundschaft einfach so wegzuwerfen. Tamara ist anders als ich, sie interessiert sich für oberflächliche Dinge, redet nicht über Gefühle und macht seltsame Sportarten wie diese Kampfkunst, die ich noch immer nicht aussprechen kann und sie ist überraschend gut in Mathe. Man kann sagen, sie hat ein erfülltes, langweiliges Leben.

Direkt vor mir sitzt Elaine, die ich seit der 5. Klasse kenne, mich aber erst in der 8. mit ihr angefreundet habe. Ich rieche den bitteren, ekelhaften Geruch von Zigaretten, den sie verströmt, der überall in ihrem rabenschwarzen, leicht fettigen Haar hängt. Dass sie raucht, ist so eine Art offenes Geheimnis. Jeder weiß es und niemand unternimmt etwas dagegen, obwohl Elaine erst 16 ist.

Sie ist eine seltsame Person, eigentlich "passt" sie nicht zu mir und ich denke, wenn meine Eltern wüssten, dass Elaine raucht und mit welchen Leuten sie sich herumtreibt, wären sie weniger begeistert, dass ich ihre Freundin bin. So etwas in der Art zumindest. Aber ich mag sie, sie kann sich behaupten und zieht alles immer irgendwie durch, egal was kommt. Auch wenn ihre Art zu reden mir missfällt, ich lehne die Wörter "geil" und "krass" grundsätzlich eher ab.

Neben Elaine sitzt ihr blondes Pendant, Victoria. Ich bin nur wegen Elaine mit ihr befreundet, eigentlich mögen wir uns beide gar nicht so richtig. Also, wir haben viel Spaß zusammen, aber eher oberflächlich. Wir erzählen uns keine persönlichen Dinge, es macht einfach Spaß mit ihr zusammen zu sein. Aber ihre Welt ist anders als meine.

Bei ihr geht es um Jungs und Make-Up und sie hat so viele Freunde, die ich alle nicht kenne. Victoria ist ziemlich sozial veranlagt und hat diese gewisse Ausstrahlung. Man muss sie einfach bewundern, sie ist jemand, an dessen Seite man sich beliebt und akzeptiert fühlt, also das Gegenteil von dem, was ich sonst tue. Auch wenn ich mich anders geben muss. Ich gebe mich immer selbstbewusster, als ich tatsächlich bin.

Rechts in der ersten Reihe sitzt Diana. Sie trägt ein seriöses, rotes Kleid. Ich beneide sie, sie schafft es, zu jedem nett zu sein. Dafür hasse ich sie irgendwie, sie sagt nie Nein und akzeptiert alle so, wie sie sind. Sie steht deswegen schon stark an der Kippe zur Unbeliebtheit, denn ich bin scheinbar nicht die Einzige, die ihre Nettigkeit einfach abnormal und gruselig findet.

Auch wenn ich ihr das natürlich nicht sage, Diana ist ziemlich sensibel. Aber manchmal brauche ich sie, sie ist meine Schulter zum Ausheulen, auch wenn ich noch nie jemandem den wahren Grund für meine wiederkehrenden Trauerwellen gesagt habe. Ich erfinde immer Lügen, damit sie mich trotzdem tröstet, denn um ehrlich zu sein, bin ich ein egozentrisches Schwein, aber ich kanns nicht ändern.

Ich bin kein miserabler Mensch, aber sagen wir einmal so: Wenn ich eine andere Person wäre, wäre ich nicht freiwillig mit mir befreundet. Weder mit meinem "Öffentlichkeits-Ich", noch mit meinem "Alleine-Ich". Trotzdem mag ich letzteres mehr. Es ist so rein und unbefleckt, es besteht nicht aus Lügen, es ist wahr. Außerdem ist es viel kreativer, zum Beispiel verfasst es diese Geschichte. (Okay, nein, das klingt jetzt ein wenig schizophren.)

Nur leider bekam dieses Ich bis jetzt niemand zu sehen. Ich gebe es zu, ich habe kein Selbstbewusstsein, der Gruppenzwang ist enorm und ich will dazugehören. Also verberge ich mein wahres Ich, wenn es auch nicht schön ist, hinter einem Ich, für das ich nicht schief angeschaut werde. Es ermöglicht mir so einiges. Zum Beispiel, dass Leute mich verdammt noch Mal in Ruhe lassen.

Habe ich bereits erwähnt, dass ich keine Menschen mag? Nein? Vielleicht wird das noch mal wichtig.

Jedenfalls ist das eine Neigung, die ich nicht einfach ausleben kann. Ich muss sie verstecken, ich muss alles verstecken, dann gibt es keine Probleme. Es gab nie Probleme, beziehungsweise selten. Wenn ich mich nicht darum kümmern würde, was Leute sagen, gäbe es nie Probleme, aber das ist schwieriger denn je. Also passe ich mich an. Und ich hasse es mit jeder Faser meines Körpers, ich bin eine Lüge und ich wäre gerne ich, aber meine eigene Angst vor dem, was andere sagen, zwängt mich in einen Käfig.

Es ist komisch, so eine konkrete Zusammenfassung seiner Gedanken aufzuschreiben. Denken würde man so etwas Sinnvolles, Gegliedertes, Poetisches nie, deswegen hilft es mir, alles aufzuschreiben. Jetzt ergibt auf einmal alles Sinn und während ich mir das durchlese, kommen mir neue Erkenntnisse. Ich habe das meiste davon gar nicht begriffen, ich habe einfach drauflosgeschrieben, aber auf einmal ergibt alles Sinn.

Es klingt lächerlich, wie das Gedicht einer hochintelligenten Zwölfjährigen mit Hormonschwankungen, aber das hier liest sowieso niemand außer mir, und wenn doch, dann bin ich vermutlich tot oder so. Also ist es prinzipiell egal. Alles ist egal, solange man alleine ist. Deswegen bin ich das gerne. Nur im Moment bin ich es nicht, aber wenigstens beachtet mich niemand, das läuft auf das gleiche hinaus.

Vielleicht sollte ich in Französisch aufpassen, anstatt hier rein zu schreiben, aber es ist so eine Art Win-Win-Lose-Situation (die Wins stellen die Loses in den Schatten). Win, weil es mir Spaß macht. Win, weil meine Noten dadurch schlechter werden und ich nicht als Streber dastehe, denn ich bin in Französisch gut. Lose aus genau dem selben Grund, ich könnte viel besser sein, aber das will ich nicht.

Ich bin eine seltsame Person und beim erneuten Durchlesen fällt mir auf, dass ich bis jetzt nur über meine beiden "Ich's" geschrieben habe. (Doch Schizophrenie?) Aber ich neige zur Übertreibung, wenn ich schreibe. Mein Leben besteht auch noch aus anderen Dingen als diesem Kontrast, glaub mir. Ich kann tatsächlich lustig sein, außerdem koche ich ziemlich gut und schreibe (na gut, das dürfte man inzwischen bemerkt haben).

Es klingelt gleich und ich muss jetzt gehen. Vielleicht kann ich nächstes Mal ja erzählen, was ich sonst noch tue, außer meine asozialen Neigungen zu vertuschen. Ich habe nämlich Hobbys und sowas.

Ich weiß nicht, warum ich das starke Bedürfnis verspüre, das hier aufzuschreiben, aber ich denke, es tut mir gut. Es räumt mein Gedächtnis ein wenig auf.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt