~ Fließen

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Ich habe mir gerade noch einmal durchgelesen, was ich letztes Mal geschrieben habe. Und da habe ich damit begonnen, dass ich erklären will, warum ich so geworden bin, wie ich eben bin. Ich denke, der Grund, dass ich diesen Gedanken nicht weitergeführt habe, ist, dass ich es eigentlich selbst nicht weiß.

Denn wenn man eines über mich wissen muss, dann ist es, dass ich mir nicht ausgesucht habe, so zu sein.
Es ist irgendwie einfach so gekommen.

Ich sitze hier im Haus meiner Nachbarn und soll auf ihr fehlerzogenes Balg aufpassen. "Aufpassen" besteht in meinem Fall darin, dass das Kind möglichst antilautstärkeintensiv die Nacht überlebt. Ich habe keine Ahnung von Kindern und eigentlich mag ich sie, aber nicht so verzogene Dinger wie Jeff. Vielleicht sollte ich mal seinen Namensvetter Jeff the Killer engagieren, damit dieses dumme Ding endlich Ruhe gibt, ich will dass er schläft und ich schreiben kann.

Ich ignoriere sein Geschreie, so gut es geht, denn ich hasse es, wenn es laut ist. Natürlich könnte ich irgendetwas tun, um das Kind zum Schweigen zu bringen, was nicht ein Messer in seinem Rücken involviert, aber mein Handy lädt gerade am anderen Ende des Raumes und ich bin zu faul, zu googlen, was man in solch einer Situation macht. Ich sitze hier grad so gemütlich. (Wie eben gesagt, meine Erfahrung mit Kindern hält sich in Grenzen. Ich plane schon meine Karriere als Kindergärtnerin, nicht.)

Ich bin eine destruktive Person, und das in beidem meiner Leben. (Sag mal, bin ich Hannah Montana? Oder Hinduistin?)
Worauf ich hinauswill, ist, dass ich lieber Träume und Scheinwelten zerstöre, als gesund für mich ist, zumal ich selbst im Glashaus sitze, und wer im Glashaus sitzt, soll bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Aber es macht mir wirklich Spaß, Steine zu werfen. Mir ist nicht zu helfen, oder?

Obwohl ich darauf achte, Leuten weder negativ noch richtig positiv aufzufallen, erlaube ich es mir hin und wieder, einen zynischen Kommentar dazulassen.

Heute zum Beispiel, bevor ich meinen Abend hier fristen musste, war ich bei Diana. Sie hat zwei Schwestern, und vor diesen Schwestern wird die Diana, die ich kenne, die keiner Fliege etwas zu Leide tun würde, zum Biest. Sie streiten sich über alles, sei es die Anzahl Pommes auf dem Teller oder wem der Concealer gehörte, und ihre Mutter und ich hielten beim Essen nur Augenkontakt und bedachten uns mit Blicken, die in etwa das selbe aussagten.

Nachher wollten wir in ihr Zimmer gehen, mussten dabei aber das Wohnzimmer durchqueren, wo ihre kleinste Schwester mit der mittleren diskutierte.
"Ich werd wohl Modedesignerin!"
"Nein, wirst du nicht, schau dich mal an, das hab ich bei H&M schon sieben Mal gesehen, das ist nichts Neues, das wirst du schon sehen." Selbstbewusst verschränkte das Mädchen die Arme vor der Brust.

Ich mag sie. Sie ist eine Nachwuchs-Clara, sie spricht das aus, was ich mir denke. Die Frage ist nur, ob es wirklich ein erstrebenswertes Ziel ist, eine Clara zu werden. Ich wage es, das zu bezweifeln, aber hey, an Tatsachen kann man wenig ändern. (Zum Beispiel kann man sich so lange selbst belügen, bis man glaubt, es ist wahr, und damit die Tatsachen verzerren. Mein täglich Brot also.)

"Und ob ich Modedesignerin werde!", protestierte die 10-Jährige.
"Wir werden ja sehen. Und jetzt will ich The Big Bang Theory sehen und nicht America's Next Topmodel."
Diana riss ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester die Fernbedienung aus der Hand, die diese zuvor von ihrer kleinen Schwester erlangt hatte. Dann wurde der Bildschirm schwarz.

"Hey!", riefen die beiden im Chor. Ich grinste und sagte: "Du wirst es Diana noch danken. America's Next Topmodel ist Schrott." Danach fügte ich leise murmelnd hinzu: "Sie bewahrt dich vor einer potenziellen Magersucht, Kleine." Ich glaube, sie hat es nicht gehört, aber wenn doch, umso besser.
"Aber ich muss es sehen, ich will Modedesignerin werden!" Ach ja, was ganz Neues.

"Hör mal gut zu. Denkst du, dein Traum wird wahr durch drei Stunden Sitzen vor dem Fernseher?" Ich stieß ein bitteres Lachen aus. "Wenn du irgendwas erreichen willst, kommt es nicht aus dem Nichts auf dich zu, weil du Glück hast, du musst für deine Träume arbeiten, damit sie nicht zu Staub zerfallen und dir klar wird, dass das nie was wird."

Nach einer kurzen Pause meinte die Mittlere, ich glaubte zu wissen, dass sie Rachel hieß, und sagte: "Cool. Wo lernt man sowas?"
"Beim Nachdenken. Scheint nicht so, als würdest du das oft tun, Rachel!", höhnte Diana. Ich versuchte Vielleicht-Rachel in Schutz zu nehmen: "Sei nicht so streng mit ihr. Sie ist auf einem guten Weg..."
"...ein absolutes Arschloch zu werden, ich weiß", warf Diana ein.

Dann nahm sie mich mit in ihr Zimmer, voller rot und weiß. Es sah aus wie eine dieser schwedischen Scheunen. Nur halt innen.
Diana war nicht so ein Mädchen-Mädchen wie Victoria, aber trotzdem nahm der Schminkspiegel den größten Platz auf ihrem Schreibtisch ein. Sie warf, wie immer, einen kurzen Blick hinein um zu überprüfen, ob ihr hellbraunes Haar noch saß.

Ich bin neidisch auf diese Haarfarbe, mein Straßenköterblond ist

~~~

Ich bin inzwischen zuhause, weil Josh (der mit seinen schokobraunen Augen übrigens ziemlich süß ist, nicht, dass ich mich zurzeit sonderlich für Jungs interessiere, aber das ist er wirklich) seiner Familie einen Überraschungsbesuch abstatten wollte, nur um dann herauszufinden, dass nur sein Neffe und die semiprofessionelle Babysitterin anwesend sind. Ich wurde also unterbrochen und weiß nicht mehr, wie ich diesen Satz beenden wollte, also hab ichs gelassen.

Mit einem erleichterten Lächeln ließ ich ihn auf Jeff aufpassen und ging nach Hause. Endlich wieder ein Babysitting-Auftrag geschafft. Ich bin froh, wenn Jeff endlich zu einem Kind heranwächst, oder ich erwachsen bin, vielleicht muss ich dann nicht mehr auf ihn aufpassen. Ich hasse es, wenn meine Mutter mich einfach den Nachbarn zur Verfügung stellt.

Aber weil ich kein Mensch großer Rebellion oder Auffälligkeiten bin, habe ich zugesagt. Ehrlich gesagt habe ich mich schon ein wenig auf die Ruhe beim Schreiben gefreut. Denn das ist meine einzige Bezahlung, ich würde eh Geld annehmen, aber meine Mutter musste ja unbedingt kommentieren: "Das macht sie bestimmt auch gerne ohne hohe Entlohnung."

Nein, sie macht das nicht gerne ohne hohe Entlohnung. Wenigstens weiß ich, wo die Familie Edison ihre Doritos versteckt. (Heute waren sie leider leer, sie sollten sich schämen gehen, die Edisons.)

Jetzt werde ich aber erst einmal schlafen gehen. Und mir überlegen, ob ich Wahrscheinlich-Rachel als meine Nachfolgerin rekrutieren möchte. Nein, das ist natürlich nur Spaß, aber ich sehe gerne, dass ich nicht das einzige Übel auf dieser Welt bin. Und scheiße, mein Rollpen hat gekleckst, ich sollte mir einen neuen zulegen, obwohl ich weiß, dass ich es nicht übers Herz bringen werde, den alten kaputten, dunkelblauen wegzuwerfen.

Wow, mir fällt gerade auf, dass ich schon über zwanzig Seiten aufgeschrieben habe. Mehr, als ich jemals mit den Hausaufgaben füllen könnte, die ich gedenke zu machen. (Okay, die beschränken sich auf ein Minimum, irgendwo muss ich ja meine mittelmäßigen Noten herbekommen, denn an Intelligenz mangelt es mir nicht, wie man hoffentlich merkt.)

Ich schweife schon wieder ab, oh Gott, das nimmt ja Überhand. Hab ich überhaupt kein Leben mehr ohne dieses Buch?
Scheint so.

Jedenfalls gut zu wissen, dass Josh wieder in der Stadt ist. Ich kann ihn durch mein Fenster beobachten, wenn er auf der Veranda sitzt und die Zeitung liest. War das creepy? Ja? Egal, ich bin nicht mehr zurechnungsfähig, gute Nacht.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt