~ Dümpeln

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Gerade liege ich in der Hängematte draußen im Garten. Der Apfelbaum blüht und mir fliegen behinderte Mücken vor dem Gesicht herum und das nervt echt. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, es riecht nach frisch gemähtem Rasen. Was will man mehr. Außer seine gottverdammte Ruhe haben, aber das ist mir einfach nicht vergönnt.

Schon wieder schreibe ich etwas. Es ist selbstverständlich geworden. Aber diesmal habe ich einen Anlass.

Ich habe mich an Colton erinnert. Einen Freund meiner Kindheit, unser Nachbar. bevor Mum und ich unseren Vater verlassen haben. Das Schicksal der meisten Kinder in diesem Zeitalter. Und ich leide mit jedem, der so etwas durchmacht. Denn ich bin ja auch eines von ihnen. Colton war deutlich älter als ich. Als ich neun war - das war, als wir ausgezogen waren - dürfte Colton etwa fünfzehn gewesen sein, also so alt wie ich jetzt.

Eines Tages werde ich ihn wiedersehen und dann werde ich ihn umarmen und ihm sagen, dass er mir mein Leben gerettet hat. Nicht direkt, aber irgendwie schon. Als Neunjährige habe ich natürlich noch nicht verstanden, was mir jetzt sonnenklar erscheint. Mir kommen gerade die Tränen, als ich an ihn denke und daran, was er für mich getan hat, mich fremdes Nachbarsmädchen.

Dass sich meine Eltern getrennt haben, sollte bis jetzt jeder wissen. Aber schon lange vor der Trennung haben die Streite angefangen. Schreie, die durch das Haus hallten, Beleidigungen, von denen mein neunjähriges Ich nicht einmal wusste, was sie bedeuteten und von denen mir jetzt fast schlecht wurde. Mir war immer klar, dass etwas nicht stimmte, und ich hatte auch einige Kinder gekannt, deren Eltern sich getrennt hatten.

Aber ich wäre nie im Traum darauf gekommen, dass ich eines von ihnen werden würde. Vor mir waren sie immer nett zueinander und das muss ich ihnen hoch anrechnen. Ich war das, was sie zusammenhielt, der Grund, wieso sie einander immer noch eine Chance gaben. Dann kam die Trennung. An diese Zeit selbst kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Vermutlich habe ich mir einfach viel zu viel Mühe gegeben, das zu vergessen.

Meine Mutter hat seitdem nie wieder über meinen Vater gesprochen. Nie wieder. Ein weiterer Grund, warum ich den Kern dieses Ereignisses heute vergessen habe. Das einzige, was heute noch an meinen Vater erinnert, sind meine ungeliebten sandfarbenen, schulterlangen Haare.
Aber die Streite und Coltons Mut und Selbstlosigkeit haben sich unter meine Haut gebrannt.

Jetzt würde ich Colton echt süß finden, wenn ich es mir so überlege. Mit dem rabenschwarzen Haar und den fast ebenso dunklen, aber irgendwie warmen Augen. Ich habe ihn genau vor mir.
Wie er an meine Zimmertür klopft, mit seinem strahlenden Lächeln, das seine ein wenig schiefen Zähne entblößt. Wie ich erst genervt bin, dann aber an seine süße Katze denke, die ich immer streicheln darf, wenn ich bei ihm bin.

"Ach komm schon, Claire", sagte er dann immer. "Ich hab grad keine Zeit!", sagte ich unter Tränen, die ich als Kind noch kaum verstecken zu wusste.
"Doch, hast du. Du hast immer Zeit für Cookie." Das war seine Katze. Es brauchte nur noch einen seiner berühmten, warmen Grinser, damit ich aufsprang und mit ihm mitging.

Im Nachbarhaus war der Streit immer noch zu hören. Das war der Nachteil an einem Reihenhaus mit dünnen Wänden. Aber wir haben miteinander ferngesehen und Katzen gestreichelt und uns Madagascar angesehen. Und dann haben wir Kekse gegessen. Und wenn es dunkel wurde, hat Colton mich nach Hause begleitet. Wenn ich zuhause war, habe ich im Normalfall an dem Tag weder von Mum noch von meinem Vater etwas gehört.

Ich frage mich, wie ich früher so blind sein konnte, nicht zu erkennen, dass Colton kein nerviger Typ war, sondern eine der liebevollsten Personen, die ich jemals kennen gelernt haben darf.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn noch einmal sehe, um ihm das zu sagen, ist verschwindend gering. Wenn ich meine Mutter nach ihm frage, denke ich nicht, dass ihr das besonders gefallen würde.

Aber ich spiele mit dem Gedanken.

Wenn er wirklich Arzt geworden ist, wie er es immer wollte, müsste er jetzt studieren. Mensch, ich hoffe, der jetzt 21-jährige Colton ist ein glücklicher junger Mann. Er hat es verdient.

~~~

Zu alten Rocksongs zu tanzen, ist besonders schön, wenn niemand einen sieht.

Jetzt habe ich die Vorhänge zugezogen, weil Josh, das alte Arschloch, mich singen gehört hat und mir dann zugesehen hat, bis ich kapiert habe, was hier vor sich ging. Ich nehme alles zurück, was ich jemals gesagt habe, und dass er süß ist, quittiert er mit seinem Wesen. Es war wirklich peinlich, und wer mir das nicht glaubt, hat mich noch nie zu Queen singen hören. Warum auch immer Josh bei meinem Fenster reinschaut. Arsch.

Ich hasse es, wie er so erwachsen und pseudoreif wirkt, wenn er die Zeitung liest, die fast so groß ist wie er selbst. (Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt 1,70 ist.) Dabei ist er erst 19, und spielt sich wie der Vater von Jeff auf, dabei ist dieser nur das Kind seines sechs Jahre älteren Bruders. Trotzdem zähle ich ihn noch zur Sorte "nette Nachbarn". Immerhin bleibt ein Rest Sympathie für ihn übrig, weil er genau wie ich schwarzen Kaffee mit ein wenig Zucker trinkt. Übrigens bin ich gut darin, mir die Kaffeevorlieben von Leuten zu merken.

Latte Macchiato für Tamara, Karamell- oder Vanillearoma für Diana, mit Milch, aber ohne Zucker für Elaine, und möglichst fettarm und mit Zuckerersatz für Victoria. Wichtig, das hier mal aufzulisten, falls ich verfrüht Alzheimer bekommen sollte.

Soviel dazu...
Jedenfalls werde ich Josh beizeiten eine reinhauen, wenn er mich nicht wieder zum Abendessen einlädt. Er kocht wahnsinnig gute Gnocci, ich könnte schwören, dass da jeden Italiener der Neid frisst.
Josh war übrigens Italiener. Zur Hälfte zumindest. Seine Mutter war Italienerin, aber leider keine tolle Köchin. Das wusste ich von den vielen Abenden des Babysittens, an denen ich eine warme Mahlzeit bekommen habe, bevor die Edisons weggefahren sind.

Eigentlich sollte ich gerade an meinem Geschichtereferat arbeiten, aber irgendwie interessieren Zunften im Mittelalter mich nicht wirklich. Mein Lieblingsfach ist nach wie vor Kunst, weil ich da so oder so schlecht bin und mich nicht erst zu verstellen brauche.

Schön langsam muss ich aufhören zu schreiben, denn sonst vergesse ich auch noch etwas zu kochen. Und meine Mutter wäre nicht erfreut, wenn ich das einfach nicht mache, denn sie kommt nicht gern hungrig von der Arbeit. Kann ich verstehen. Ich habe auch gern ein gutes Abendessen nach einem anstrengenden Tag in der Schule.

Na gut, dann höre ich an dieser Stelle mal auf.
Es widerstrebt mir ein wenig, weil ich mit dem Zuschlagen dieses Buches wieder in die Realität zurückkehren muss, aber mir bleibt nichts anderes übrig.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt