~ Sinken

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Freistunde in der Schule und zwischenzeitlicher Lagebericht.

Beleidigungen: 7
Ignorieren meiner Fragen: 3
Fieses Getuschel: 4
Empörte Blicke: denkt ihr, ich hätte mitgezählt?

Während Diana mich mitleidig, aber trotzdem wütend angesehen hat, hat Elaine mich keines Blickes gewürdigt, Victoria das fiese Tuscheln angeführt und Tamara... Ich habe bis vor kurzem geglaubt, dass sie gar nicht Victorias Foto gesehen hat, wo meine Notizbuchseiten abgebildet sind. Aber dann hat sie gesagt, mit ganz niedergebrochener, unberührter Stimme: "Was du über uns denkst, ist alles andere als okay. Weißt du, ich denke, ich hab mich in dir getäuscht."

Ich habe die ganze Zeit nach oben gesehen und mich dazu gezwungen, nicht zu weinen, indem ich blinzelte. Die Genugtuung würde ich ihnen nicht geben. Auch wenn ich mir zuhause die Seele aus dem Leib heulte, musste das in der Schule nicht unbedingt der Fall sein. Ich wollte nicht schwächeln, ich wollte ihnen nicht zeigen, wie viel mir die Geheimhaltung dieses Buches bedeutete.

Und ist es nicht irgendwie ironisch und unfassbar dämlich, dass ich schon wieder weiterschreibe? Ich lerne halt nichts aus meinen Fehlern.

Oder aber, es macht einfach zu süchtig, seine Sorgen aufzuschreiben und geordnet zu haben. Vielleicht ist das in diesem Fall eher richtig. Aber ist es nicht jetzt auch irgendwie wieder egal? Jetzt, wo das worst case-Szenario eingetreten ist, ist alles egal.

So egal, dass ich meine Haare seit Freitag nicht mehr gewaschen habe, so egal, dass ich mich nur noch von Cornflakes ernähre, wenn meine Mutter es nicht kontrollieren kann. Ich habe keine Lust mehr auf irgendetwas, ich bin mir im Klaren, dass das vorbei gehen wird, aber im Moment möchte ich einfach nur in meinem Selbstmitleid ertrinken.

Ich will am liebsten einfach untertauchen.

So lange, bis mein Kopf brummt, ich nur noch schwarze Flecken sehe und mein Bewusstsein langsam schwindet. Damit ich mir keine Gedanken mehr über diesen Scheiß machen muss.

(Ja, das habe ich wortwörtlich von der ersten Seite kopiert. Zitate von sich selbst zu klauen wird doch wohl erlaubt sein.)

Vielleicht sollte ich mir was neues ausdenken, aber es passt einfach so zu mir. Nach wir vor, oder besser denn je.

Und mir geht es scheiße und jeder kann es sehen. Niemand spricht mich darauf an, aber ich will nicht um Aufmerksamkeit heischen. Außerdem würde ich dann sowieso sagen müssen, dass nichts los ist, weil ich die Geschichte nicht einer x-beliebigen Person unter die Nase reiben kann, ohne dass ich schon wieder als Lügnerin gesehen werde, und nur als Lügnerin.

Trotzdem hätte ich zumindest gerne, dass wenigstens meine Mutter es merkt. Aber sie arbeitet so viel, sie kann sich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Schon gar nicht auf ihre Tochter.

Wenn ich nur einen Colton hätte, mit dem ich reden könnte. Ich schwöre es, das wäre meine Rettung.

~~~

Gerade habe ich ihn gegooglet. Dass ich auf diese Idee noch nicht gekommen bin, überrascht mich selbst. Ich bin auf ein Facebook-Profil gestoßen, aber da ich Facebook hasse, habe ich mir sein Instagram angesehen.

Meine Hand hat gezittert, als ich darauf geklickt habe und die Seite hat schneller geladen als ich mich auf das vorbereiten konnte, was passieren würde.

Ich scrollte mich durch. Vor einer Woche. Er war gealtert. Natürlich war er das, aber vorstellen hatte ich es mir trotzdem nicht können.
Colton mit Sonnenbrille. Ein dunkler Bartschatten lag über seinen Wangen und sein Haar war kurz geschnitten und zurückgegelt. Er war wirklich schön.

Ich scrollte weiter. Irgendwie traf es mich, als ich das Mädchen mit dem orangerot gefärbten Haar sah, dem Colton eine Kuss auf die Wange gab. Auch sie war ganz hübsch und trug eine Brille mit dunkelbraunem Gestell, die ihre grauen Augen vorteilhaft einrahmte. Aber es traf mich nicht unbedingt negativ oder positiv. Nicht einmal überrascht war ich. Er ist schön und hat ein gutes Herz, natürlich liebt ein Mädchen ihn.

Ich weiß nicht, was es war. Einerseits freute ich mich total für ihn, aber andererseits ist er mir total entwachsen. Er ist nun einmal über zwanzig und ich fünfzehn. Ich bezweifle, dass er von mir noch etwas hören will, aber trotzdem spiele ich mit dem Gedanken.

Ein weiteres Bild zeigte eine grau gestromte Katze, die seine Freundin lachend in den Armen hielt. Ich las die Beschreibung. "Me, Charly and Faye - weirdest family ever. nevermind"
Ich fragte mich, ob die Katze oder die Freundin Charly hieß.
Weiter. Ein Foto von Spaghetti mit Soße. Ich bekam fast Hunger dabei.
"Thanks to Charly for cooking for a starving man". Die Katze hatte wohl nicht gekocht, also heißt seine Freundin Charly oder wahrscheinlich Charlotte.

Das nächste Bild zeigte ihn in einer Badehose. Darunter stand, dass es vom Urlaub des letzten Jahres in Italien stammte.

Das reichte mir dann. Mehr will ich gar nicht sehen. Es hat ohnehin viel Überwindung gekostet, seinen Namen überhaupt zu googlen. Was vielleicht der Grund ist, warum es so lang gedauert hat, bis ich es getan habe.

Jedenfalls ging ich auf sein Instagram-Profil und schrieb darunter.

Kommentar von clara.j.deacon
hey Colton, ich bins, Clara. Ich hab eben dein Profil gefunden und ich habe mich gewundert, ob du denn immer noch in der gleichen Stadt wohnst.

~~~

Keine Reaktion kam. Vier Stunden lang. Doch dann vibrierte mein Handy. Ich hatte für kurze Zeit die Benachrichtigungen eingeschaltet, damit ich es ja mitbekam.
Es riss mich aus dem Schlaf, aber ich war sofort hellwach. Es war halb zwölf und stickig heiß in meinem Zimmer.
Es war frustrierend, weil ich bis vor einer halben Stunde eh nicht einschlafen hatte können. Ich habe mich früh ins Bett gelegt in der Hoffnung, dass ich schneller einschlafen würde. Was auch funktioniert hat.

Ich habe mein Handy entsperrt und auf seine Antwort geschaut. Hier stand sie, schwarz auf weiß.

Hi Clara!
Ja, ich lebe noch in Conava.

Ich weiß nicht, was ich mir eigentlich erwartet habe, aber es enttäuscht mich. Das letzte, was ich an diesem Tag tun werde, ist, ihm zu folgen. Damit ich jeden dritten Tag einen Stich im Magen verspüre, wenn ich sehe, wie glücklich er ist und wie scheiße es mir geht. Auch wenn ich mir immer wieder einreden muss, dass meine Probleme gar nichts sind und ich hungernde Kinder in Afrika oder die Opfer einer Vergewaltigung denken muss.

Dann sind meine Probleme gar nichts.
Eigentlich.

Aber ich kann sie doch nicht einfach so abschalten.
Genau wie ich mein Gehirn nicht einfach abschalten kann, um endlich schlafen zu können. Die Hitze des Frühsommers ist erdrückend und selbst das geöffnete Fenster bringt mir irgendwie nichts. Die Luft draußen ist genauso stickig wie drinnen, deswegen kann ich genauso gut noch diese paar Dinge hier vermerken.

Es macht mir Spaß. Ich schreibe wirklich gerne. Auch wenn sich mein Talent in Grenzen hält, aber es geht oft nicht um die gewählten Worte, sondern um die Message und das Thema der Texte.

Wenn ich hier Beispiele für erfolgreiche Mainstream-Bücher nenne, deren Schreibstil ich nicht gut fand, erschlagen mich die John-Green-Fans.

Aber ich sollte nicht in unrealistischen Vorstellungen schwelgen. Ich würde es mich doch sowieso nie trauen, ein Buch zu veröffentlichen.

Ich hätte Angst, dass die Leute es nicht mögen würden. Dass sie denken würden, ich wäre der Hauptcharakter und würde diesem in allen Handlungen zustimmen. Dass sie mich für krank oder gestört halten, weil... Ich habe keine Ahnung wieso, aber ich habe Angst davor, jemanden so tief in mein Innerstes blicken zu lassen.

Bücher sind etwas sehr Persönliches.
Und Persönliches wird von mir unter Verschluss gehalten.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt