~ Fluten

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Es ist Samstag und ich sitze in der Gartenhütte. Der Regen flutet über mich hinweg und läuft an der Fensterscheibe hinunter, wenn ich wieder ins Haus möchte, muss ich wohl in Gummistiefeln durch den Garten waten. So lange sitze ich hier fest, mit zwei ekelhaften Spinnen und diesem Buch, sowie den Englischaufsatz von vor acht Monaten, den ich hier geschrieben habe und vergessen abzugeben.

Das war zwar nicht der Plan, aber wie konnte ich denn ahnen, dass es gleich regnen würde. Naja, egal. Ich habe sowieso nichts Besseres zu tun.
Eigentlich war heute gar nichts Spezielles los, aber ich muss mein schlechtes Gewissen bereinigen.

All die Lügen, die ich heute schon wieder gelogen habe, um zu vertuschen, dass ich Elaine gestern auf ein Konzert von einer Rockband begleitet habe. Meine Mutter hätte es mir nie erlaubt, ohne Elaine vorher kennenzulernen. Aber es war mein erstes Konzert und es hat Spaß gemacht, auch wenn ich nicht wirklich so diese Punk- oder Rockmusik höre. Außerdem hat die Band meinen aktuellen Lieblingssong gecovert und da konnte ich sogar mitsingen.

Naja, jedenfalls ist es ziemlich auffällig, wenn eine Fünfzehnjährige an einem Freitagabend, oder schon Samstagfrüh, um halb zwei nach Hause kommt. Elaines großer Bruder hat uns gefahren.
Ich habe behauptet, ich hätte bei Elaine übernachtet. Und ich war noch nicht mal schlau genug, das wirklich zu tun.

Irgendwie schreibe ich viel über Elaine hier, aber ich bin mit ihr nicht besser befreundet als mit den anderen. Nur verleitet Elaine mich immer wieder dazu, absolut dumme Dinge zu tun. Wie einmal, vor ein paar Monaten, als ich auch rauchen wollte. Nur um es einmal probiert zu haben, wie es wohl jeder tut oder es tun wird. Blöderweise habe ich den Mist gleich voll eingesaugt und meine ungeübte Lunge hatte sich angefühlt, als würde sie sich zusammenkrümmen und den Burger aus meinem Magen an die Oberfläche befördern.

Tamara ist einfach genauso "wohlerzogen" wie ich. Meine Mutter kennt sie schon Ewigkeiten, und mit ihr unternehme ich sowieso nicht wirklich viel außer auf dem Bett zu liegen und über irgendwelche Filme oder Serien zu reden.
Diana ist zu nett und vernünftig, Victoria unternimmt nicht so gerne Dinge, die etwas anderes involvieren als shoppen gehen oder ins Kino. Elaine ist die einzige, die einen schlechten Einfluss auf mich ausübt.

Scheiße, ich glaube, die Hütte bricht gleich zusammen. Es hat so heftig gedonnert und der Regen läuft am Fenster hinunter, als würde jemand es mit dem Gartenschlauch abspritzen. Außerdem tropft die ganze Zeit ein wenig Wasser von der Decke. An vereinzelten Stellen scheint die Gartenhütte nicht ganz dicht zu sein, aber das verlangt ja niemand.

Ich könnte jetzt Witze über "ganz dicht sein" machen, aber ich spars mir einfach.

~~~

Ich bin wieder auf trockenem Gebiet. (Das hört sich an, als wäre ich schwere Alkoholikerin.)
Es hat schüttet so sehr, dass in Sekunden mein Make-Up ruiniert war. Ich hasse wasserfeste Wimperntusche, das dauert abends immer ewig, bis man die abbekommt. Deswegen habe ich gerettet, was zu retten war, obwohl ich heute eh nirgends mehr hingehen möchte.

Aber hey, wenigstens hab ich mir was trockenes, gemütliches angezogen, und zwar meinen blauen Pullover. Er ist mittlerweile ziemlich alt, dennoch erfüllt er seinen Zweck.

Mein Kopf schmerzt vor Müdigkeit. Gestern war ich einfach zu lange auf. Vielleicht werde ich mir heute noch irgendwas im Fernsehen ansehen oder so, jedenfalls gedenke ich nicht, noch etwas produktives zu tun.

Außer es zählt als produktiv, endlich einmal das zu erzählen, was ich schon die längste Zeit tun will, aber immer wieder abgeschweift bin. Ich garantiere nicht, dass es diesmal nicht auch passiert - denn das Problem ist wie schon so oft erwähnt, dass ich mir selbst eigentlich nicht sicher bin, weshalb ich so geworden bin und mein Selbstbewusstsein auf ein Minimum irgendwo in der Nano-Größenordnung zusammengeschrumpft ist.

Ich denke, es hat angefangen, als ich hierher gezogen bin mit meiner Mutter. Vielleicht auch ein wenig später, so etwas baut sich ja auf und ist nicht auf einmal da.

Ich kann mich noch genau erinnern, es war in den Osterferien 2010. Schnell hatte ich Tamara kennengelernt, die in der Nähe wohnte. Wir hatten uns im Park getroffen und ich hatte ihren Hund streicheln wollen, da hatten wir uns unterhalten und herausgefunden, dass sie in die Schule ging, die auch ich besuchen würde.

Daraufhin hat meine Mutter dafür gesorgt, dass ich in die gleiche Klasse wie Tamara kam, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Bestimmt hat es mir früher geholfen, nicht auch noch in der Schule bei null anfangen zu müssen. Tamara und ich haben uns seitdem natürlich sehr verändert, aber irgendwie sind wir immer noch befreundet. Wenn auch nicht mehr so sehr, dass wir uns beinahe jeden Tag treffen.

Naja. Ich schweife schon wieder ab, das nervt echt. Weiter gehts mit dem, was ich eigentlich vorhatte zu schreiben.

Ich bin dann auf jeden Fall an meinem ersten Schultag in der 4. Klasse gekommen und die Lehrer waren nett zu mir, sodass ich mich schnell eingefunden habe.
Wie das am Anfang halt so war, haben die Lehrer und Schüler viele Fragen gestellt, um mich besser kennen zu lernen. Jedenfalls kam dann irgendwann die Frage nach meinem Vater von ein paar Mitschülern.

Ich habe den Moment noch vor mir, wie ich kurz antworten wollte, dass er jetzt woanders lebt als wir. Und dann doch ganz andere Worte meinen Mund verließen, nämlich: "Der ist auf Geschäftsreise in Chila." Über das Land hatte ich neulich was gelesen, und kannte es scheinbar nicht allzu gut - sonst hätte ich gewusst, dass genau jenes südamerikanische Land Chile hieß. Aber meine Freunde schienen nicht mehr über "Chila" zu wissen als ich, also glaubten sie es mir.

Und ich habe gelächelt. Wissend, dass ich log, aber damals hatte ich das noch nicht als so schlimm empfunden. Es war auch nur eine Lüge. Eine einzige, lächerliche Lüge. Aber es war erstaunlich, wie Lügen sich anhaufen konnten. Erst einmal war es eine, aber dann wurden es immer mehr mehr. Noch besser ist es, wenn man jedem etwas anderes erzählen muss. Irgendwann verliert man einfach den Überblick.

Ganz zu schweigen von dem schlechten Gewissen, das auf einem lastet, einem von hinten ins Ohr haucht und wie ein Damoklesschwert über einem schwebt. Man sieht in jedem minimal Eingeweihten oder Zeugen eine Bedrohung. Und ich bin überzeugt, dass man seine Lügen manchmal selbst glaubt. Es gibt Ereignisse in meiner ferneren Vergangenheit, als ich etwa 12 oder 13 war, da bin ich mir bis heute nicht sicher, wie sie tatsächlich passiert sind.

Aber mittlerweile bin ich so eine geübte Lügnerin, dass mir nicht so schnell ein Malheur passiert.
Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll.

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