~ Schwimmen

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Es ist September.

Aber zuerst möchte ich erzählen, was am letzten Schultag der neunten Klasse passiert ist.

Tamara ist zu mir gekommen und hat gesagt: "Weißt du, ich finde es nicht so schlimm. Ich weiß, wie du bist. Ich weiß, dass du dazugehören willst und ich finde das okay."
Dann habe ich zitternd gefragt, ob sie mich denn nicht hasst für die fiesen Dinge, die ich über sie geschrieben habe. Sie hat nur ihren Kopf geschüttelt, sodass ihr dunkelbrauner Pferdeschwanz hin und her schwang und gemeint: "Dass du geschrieben hast, du erlebst keine extrem spannenden Sachen mit mir, werde ich doch gerade noch verkraften."

Ich bin so glücklich. Vielleicht ist Tamara wirklich die einzige, die immer zu mir gestanden hat. Ich weiß nicht, wieso ich Arsch sie immer so in den Hintergrund gerückt habe. Aber sie kannte mich von Anfang an. Sie hatte immer schon die ehrlichste Beziehung zu mir. Jetzt erst recht, denn in dem Moment, in dem sie zu mir zurückgekommen ist, habe ich beschlossen, ihre Freundschaft nicht als selbstverständlich zu erachten und mich mehr zu bemühen, nett zu ihr zu sein.

Das gleiche mit Diana. Von allen hatte ich ja am wenigsten damit gerechnet, sie zu verlieren. Die nette, erwachsene, ausgeglichene Diana. Ich dachte, sie wäre selbst zum Mörder ihres Erstgeborenen höflich. Aber ich habe mich in ihr getäuscht. Dass sie auch einmal austeilen kann, anstatt wortlos einzustecken, macht sie mir irgendwie viel sympathischer. Und ich wäre auf den Knien hergekrochen, um wieder eine Freundin wie sie zu haben.

Jetzt habe ich das wieder. Und ich bin verdammt froh, sie zurück zu haben. Niemand sonst ist freundlich und vertrauensvoll genug, mir einen Zwanziger auszuleihen oder mich das letzte Stück Pizza essen zu lassen.
Obwohl ich ihre Nettigkeit auf eine harte Probe gestellt habe, ist sie weiter nett zu Leuten. Diana ist ein Engel.

Auch, wenn sie mich manchmal zwingt, mit Rachel ins Kino zu gehen, damit ihre kleine Schwester endlich einmal Ruhe gibt. Ich mag Rachel aber. Sie ist herrlich sarkastisch und hat einen klaren Verstand, wenn sie auch in der Hinsicht, dass sie niemals einen Freund finden wird, meiner Meinung nach vollkommen falsch liegt. Manchmal kommt es mir so vor, als sei sie meine eigene kleine Schwester. Seltsam, aber es ist so.

Elaine und Victoria allerdings haben mich hinter sich gelassen. Die beiden sind lieber für sich. (Ich glaube übrigens schön langsam, Elaine steht auf Victoria, aber sicher bin ich mir nicht.)
Aber ich muss zugeben, sie hat es, was das Lästern über Leute betrifft, in meinem Buch am schwersten getroffen. Außerdem war meine Bindung zu Elaine sowieso unsicher und die Beziehung zu Victoria zu oberflächlich.

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich nicht mehr mit ihnen befreundet bin. Meine Mutter würde die beiden als schlechten Einfluss auf mich bezeichnen.

Und es gibt noch eine wichtige Neuerung in meinem Leben: Seit Juli gehe ich jeden Mittwoch zu meiner Psychologin namens Dr. Casey Seamus. Sie ist nicht ganz unsympathisch, was ich am meisten an ihr mag, ist, dass sie keinen Bock auf den Job hat. Ich sitze jede Woche auf dem hässlichen gelben Stuhl, erzähle ihr jede Woche von all meinen Lügen und sie nickt einfach die ganze Zeit. Dann fühle ich mich besser und sie hat es bestimmt eh schon wieder vergessen, wenn ich das nächste Mal komme.

Denn laut ihr nach meinem ersten Gespräch sind meine Schlafstörungen kein Wunder und auch meine schlechte Laune. Sie meinte, ich bräuchte nur jemandem, dem ich vertrauen kann, wenn ich mit ihm rede. Und hey, diese Rolle übernimmt Dr Seamus gar nicht schlecht. Fast freue ich mich immer auf den Mittwoch, um mir das vom Gewissen zu reden, was ich sonst in dieses Buch schreiben würde.

Gestern habe ich einen großen Schritt gewagt und ihr von diesem Buch erzählt. Auf einen Schlag war sie wie ausgewechselt und total interessiert.
"Schreiben gleicht dich emotional aus und hilft dir?"
"Ja, das tat es", habe ich geantwortet, ein wenig verwirrt von ihrem Stimmungsumschwung.
"Und wieso tust du es dann nicht mehr?"

Das war der Punkt, an dem ich alle Hemmungen fallen ließ. Wir überzogen sogar bis nach sieben, ich erzählte ihr einfach alles, was mit dem Buch zu tun hat. Als sie mich gefragt hat, ob ich es ihr zeigen wollte, habe ich abgelehnt. Das ging zu weit. Ich bereute ohnehin an diesem Punkt schon meine plötzliche Offenheit.

Am Ende des Gesprächs meinte sie, ich sollte wieder schreiben, wenn es mir hilft. Aber nichts emanzipierendes. Sie empfahl mir, etwas zu schreiben, mit dem ich mich so richtig ablenken kann. Dabei geht es gar nicht darum, einen vollständigen Roman zu verfassen, sondern um meine "Leidenschaft" dazu zu benutzen, mich auch mit anderen Dingen als der harten Realität zu beschäftigen.

Sie hat gemeint, ich solle ihr nächstes Mal vorlesen, was ich geschrieben habe - natürlich nur, wenn ich das möchte. Und das werde ich auch tun. Ich habe eine gute Idee für ein Fantasybuch. Es wird ziemlich kompliziert, aber mir kribbelt es in den Fingern, es zu schreiben.

Doch erst muss ich das hier beenden. Damit ich mit dem emanzipierenden Schreiben aufhöre und eine neue Ära beginnen kann. Ich denke, das war bis jetzt alles. Und dieses Buch wird in meinem Schrank vergammeln, unter dem alten Stoffflamingo, den ich als Kind so geliebt habe. Erst wollte ich es verbrennen, aber das bringe ich nicht übers Herz. Vielleicht später einmal, aber zurzeit würde ich es danach einfach nur bereuen.

Aber ich muss mit diesem Mist abschließen. Ich muss aufhören, im Selbstmitleid zu ertrinken und mich in immer schlimmere Situationen hineinzureiten. Wie Dr Seamus schon sagte, ich musste weniger denken und mehr machen. Mit einem Lachen hat sie hinzugefügt, dass intelligente Menschen es schwerer im Leben haben, weil sie alles hinterfragen und das auf Dauer nicht gut gehen kann.

Weniger denken und mehr machen.
Dazu muss ich aufhören, mir vorzuwerfen, dass ich eine Versagerin und eine Lügnerin bin. Was ich im Übrigen wirklich nicht bin. Zumindest nicht mehr als alle anderen auch.

Denn ich denke, ich habe nun endlich verstanden, dass ich all die Zeit nichts Besonderes war, nichts Abnormales, nichts, was irgendwie erwähnenswert wäre.

Denn wir alle sind Lügner.
Dreckige, elendige, normale Lügner.

Wir sind alle Lügner.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt