~ Treiben lassen

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Heute war ich mit Victoria und Elaine shoppen.

Das ist ein gutes Beispiel, um mir selbst zu erklären, warum ich so geworden bin, wie ich eben bin.

Aber egal, vielleicht beginne ich einfach damit, zu erzählen, was heute passiert ist. Das hier zu schreiben fühlt sich an wie eine Psychotherapie.

Elaine lehnte an der Wand und rauchte eine weitere Zigarette. Victoria schrieb mit ihren Internet- und realen Freunden gleichzeitig, ihr Handy zwitscherte die ganze Zeit und ihre Daumen flogen über das Touchpad ihres iPhones. Elaine nickte unserem Mathelehrer zu und lächelte schief, er nickte zurück und tat so, als hätte er nicht gesehen, wie sie die Kippe auf den Boden warf und austrat.

Victorias Handy wurde stummgeschaltet und ich dankte den Göttern, dass es so gekommen war. Wir gingen zu Fuß in das nicht weit entfernte Einkaufszentrum. Als wir angekommen waren, mussten wir auf Victoria warten, die überraschenderweise ein ganzes Schwimmteam getroffen hatte, wo sie ganz zufällig die Hälfte der Leute kannte, weil sie die Freundinnen der Halbschwester ihrer Cousine waren.

Als sie endlich fertig war, gingen wir in so einen überteuerten, stinkenden Shop. Wir testeten ungefähr siebenundsechzig Parfüms aus und Elaine sprühte mich mit Incredible Things voll, worauf ich mit einem Feuer von Christina Aguileras siebten Parfüm antwortete, woraufhin wir letzteres bezahlen mussten. Ich schämte mich dafür, aber ich tat so, als wäre es mir komplett egal. Trotzdem war es lustig.

"Gehen wir als nächstes zu H&M", verlangte Victoria und wir ließen uns von ihr zu dem Geschäft zerren, wo Elaine und ich uns eher langweilten, aber Victoria war in ihrem Element und zerrte Kleider über Blusen hervor, die von ihrer Geschmacksverirrung zeugten. Mir wurde von Elaine und Victoria ein mintfarbener Löcherpullover aufgedrängt, und ich vertraue ihnen in dieser Angelegenheit.

Wenn ich mich nach meinem tatsächlichen Modestil kleiden würde, wäre das nicht so schlimm, aber meine Freundinnen wissen, wie man beliebt ist und trotzdem im Hintergrund bleibt, deswegen wissen sie auch, wie man sich dementsprechend kleidet. Man könnte jetzt sagen, ich sollte das nicht so eng sehen, weil man auf die Inneren Werte achten soll, aber dafür habe ich nur ein bitteres Lachen übrig.

Beispiel? Bewerbungsgespräch. Wenn du seltsam aussiehst oder die falschen Antworten gibst, bist du unten durch. Da sehen wir: Am Ende kommt alles zurück zur Oberflächlichkeit. Der erste Eindruck zählt und ohne meine Freundinnen und ein paar Lügen, die ich einbringe, hätte ich Pech. Man kann sich in dieser Welt nur behaupten, wenn man sagt, was die Leute hören wollen. Für Wahrheit und "immer du selbst sein" ist kein Platz.

Aber hier schon. Hier schreibe ich die Wahrheit hin, wenn ich sie eh schon niemandem sagen kann.

Danach sind wir zum Supermarkt gegangen und haben uns Ben and Jerrys gekauft. Beziehungsweise ich und Elaine, Victoria kann Eiscreme aufgrund ihrer Figur nicht dulden, aber das hielt sie nicht davon ab, bei Elaines Strawberry-Cheesecake-Eis mitzuessen. Ich verputzte Chocolate Fudge Brownie dagegen ganz alleine, und es schmeckte göttlich.

Nachher machte Victoria mich darauf aufmerksam, dass ich Eis an meiner Augenbraue hatte, was auch wieder nur mir passieren konnte. Nach dieser Stärkung sind wir noch durch unendlich viele Modeläden gelatscht, haben uns Lidschatten gekauft, die wir niemals tragen würden, alle drei neue Nagellacke sowie eine Lederjacke für Elaine, mit der sie irgendwie aussah wie so eine Bikerin.

Irgendwann so gegen sechs Uhr verabschiedeten wir uns voneinander, gaben uns bedeutungslose Umarmungen, die ich in meinem tiefsten Inneren einfach nur unglaublich nervig fand und gingen getrennter Wege nach Hause.

Ich muss dazusagen, ich wünschte, ich hätte solche Eltern wie in Filmen und Büchern, die ihren Kindern nur das Essen machen und sich kein Stück für sie interessieren. Aber ich muss meine Mutter anrufen, bevor ich shoppen gehe und ihr mitteilen, dass ich nicht nach Hause komme, damit sie nicht vor Sorgen stirbt. Ich denke, fast alle Mütter sind so, und wenn nicht, dann läuft irgendwas gehörig falsch. Jedenfalls wird da immer ein falsches Bild der perfekten Eltern vermittelt.

Meine Mutter sorgt sich Tag und Nacht um mich, seit sie sich von meinem Vater getrennt hat. Das könnte auch schon vorher so gewesen sein, aber ich denke, dass das der Auslöser dafür war. Deswegen musste ich ihr gleich einmal vorführen, was ich gekauft hatte, ihr die Namen der Freundinnen nennen, die mit waren und so einiges mehr, bis ich die Prozedur hinter mich gebracht hatte und eine Idee in meinem Kopf entstanden ist. Irgendwie hat es mich zu meinem Schreibtisch gezogen, und ich habe mein türkis eingebundenes Notizbuch hervorholt. Dann habe ich begonnen, das zu schreiben.

Ich weiß immer noch nicht, warum sich das so gut anfühlt. Klar habe ich als kleineres Kind einmal Tagebuch geführt (und nach zwei Wochen nur noch in 4-Monats-Abständen), und ich hatte immer eine gewisse Neigung zum Schreiben, aber ich weiß nicht, wozu ich das hier mache. Außer, damit es sich gut anfühlt. Ich weiß nicht, wieso das so ist. Es ordnet mein Leben ein wenig.

Die Lügen und die Wahrheiten klar voneinander zu trennen, ist leichter, wenn man sie aufschreibt. Dann hat man konkrete Worte. In den Gedanken sind immer so viele Spekulationen, unvollständige Sätze und vor allem Empfindungen, die alles durcheinanderbringen. Ich weiß nicht, an wie viele meiner Lügen ich inzwischen selbst glaube - aber sobald die Trennung verschwimmt, werden meine Lügen über mich hineinbrechen und alles wird umsonst sein.

Noch schlimmer: Alle werden mich hassen. Weil ich eine Lügnerin bin. Ich sehe den Tag vor mir, ganz deutlich, und ich schaudere. Ich will das nicht. Es ist meine allergrößte Angst. Andere können sich das vermutlich nicht vorstellen, Angst zu haben, dass auf einmal alles über einen hineinbricht, und dass man nicht weiß, ob es passiert, aber einen das paranoide Gefühl beschleicht, dass dieser Zeitpunkt naht.

Herzlich Willkommen in meinem Leben.

Und zwar dem Leben, das ich führe, wenn ich alleine bin. Dem Leben, in dem ich Bücher über Bücher lese, die nicht von glitzernden Vampiren oder einem dominanten Perversling handeln, dem Leben, in dem ich meine eigenen Bücher selbst schreibe, dem Leben, in dem ich über alles nachdenke und nichts davon jemals meinen Mund verlassen darf.

Die meisten Leute werden meine Art zu leben seltsam und verstörend finden, unnötig, übertrieben. Ich soll mir keine Sorgen machen, sagen sie.

Wenn man das Leben auf das objektivste Minimum zusammenschrumpft, das möglich ist, erkennt man, dass es nur zwei Zustände gibt: Lebend und tot, beziehungsweise nonexistent, weil man noch nicht geboren wurde. Aber das ist eine Lüge, das Leben ist wesentlich komplexer, also darf man es auch nicht auf ein Minimum schrumpfen, so objektiv es auch sei.

Und diese Menschen würden mir bestimmt den schlauen Spruch mit auf den Weg geben, dass ich, egal, was mir passiert, am Leben bleibe (solange ich nicht sterbe). Vorausgesetzt, ich würde jemandem von meinen Problemen erzählen. Das gedenke ich aber nicht so bald zu verwirklichen, dafür habe ich ja jetzt dieses Buch.

Seht ihr? (Naja, ihr, wer soll "ihr" schon sein, "sehe ich?" wäre passender, aber irgendwie komisch.) Wenn man einfach alles aufschreibt, was man denkt, kommen interessante Dinge heraus. Sonst vergisst man solche ausschlaggebenden Gedanken. Es hilft mir nämlich in diesem Fall, zu realisieren, warum ich das hier schreibe. Wenn ich meine Probleme schon niemandem erzählen kann, muss ich sie eben woanders loswerden.

Ergänzung:
Deswegen muss ich mich zurückhalten, meine philosophische Ader auszuleben. Erstens interessieren niemanden die Gedanken eines x-beliebigen, fünfzehnjährigen Mädchens und zweitens mögen Leute keine Menschen, die intelligenter sind als sie selbst, und leider habe ich diese Wirkung auf viele Menschen, nur weil ich nicht vollkommen primitiv bin. Ergibt: Ich würde als absolut gestört abgestempelt werden.

Zum Glück weiß ich das zu verhindern. Denke ich zumindest.

StromschnellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt