Ein paar Tage später ging ein Anruf im Hause Carina ein. Ihre Mutter nahm ab. „Guten Tag, Luise Werdemann am Apparat. Mit wem spreche ich? ... Aha, für Carina. Du musst die Freundin sein, bei der Carina letztens übernachtet hat. ... Ach, nein, ich war doch auch mal jung!" Oh je, wie führte sich ihre Mutter denn auf?! Und wer rief für Carina an? Das passierte sehr selten. Höchstens um nach den Hausaufgaben zu fragen, riefen manchmal Mitschüler an. Die Mutter übergab Carina lächelnd den Hörer.
„Hallo?" quäkte eine hohe Stimme aus dem Telefon.
„Hallo, Carina am Apparat. Wer ist da?"
„Ich bin's, Jessy. Klaus hat mir deine Nummer gegeben. Ich soll dir schöne Grüße sagen." „Oh, danke! Grüß von mir zurück!" „Ich fürchte das geht nicht. Er hat Umgangsverbot. Ich frag gar nicht erst, was du angestellt hast... Ich muss dir jedenfalls etwas Aufregendes berichten!", Jessy sprach schon sehr aufgeregt. Sie wartete auf eine Reaktion, fuhr aber fort, als sie nur Stille hörte. „Rainer und ich, wir schmeißen die Schule!" Carina glaubte, nicht recht zu hören. „Was macht ihr? Das ist doch nicht wahr!" „Doch! Wir gehen nicht mehr hin! Wir sind raus aus dieser Anstalt. Offiziell, mit schriftlicher Bescheinigung und allem! Endlich frei!" „Ach was... und deine Eltern? Was sagen die dazu?" Carina ließ sich nicht von Jessys Euphorie anstecken. „Ist denen Wurscht." Das mochte Carina nicht glauben. Die Eltern waren doch so wohlhabend. Die legten sicher Wert auf Bildung. „Herzlichen Glückwunsch, dann...", brachte Carina heraus. „Wir sehen uns bald im Kristall!", schrie Jessy in den Hörer und legte auf.
Carinas Mutter blickte sie wissend an, bestimmt hatte sie keine Ahnung. Sie würde ihrer Tochter nie erlauben, die Schule abzubrechen. Selbst hatte sie nur acht Jahre die Volkshochschule besucht, bis sie in Carinas Alter eine Lehre angefangen hatte. Noch heute war sie Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft. In der Nachkriegszeit war ihr Beruf wichtig gewesen und sie war besonders als Frau stolz auf ein eigenes Einkommen gewesen. Doch nun war alles anders, der Laden lief nicht mehr. Sie war voll und ganz auf Lothar angewiesen. Das sollte Carina nicht passieren.
Glücklicherweise dachte das Mädchen gar nicht daran, Jessy und Rainer nachzulaufen. Je mehr sie darüber nachdachte, desto näher kam sie der Fassungslosigkeit. Was sollte denn aus den beiden werden? Rainer war alt und stark genug, um im Notfall auf dem Bau zu arbeiten, aber Jessy? Gar nicht auszudenken... Würden die beiden überhaupt Zeit finden, den Kristall zu besuchen? „Arbeit ist eine langwierige Sache. Doch je mehr man investiert, desto mehr Zeit schlägt man heraus.", wie ihr Vater immer zu sagen pflegte.
Bald darauf läutete der Telefonapparat erneut. Carina stand zwar noch in Gedanken vertieft genau neben dem Hörer, ging aber dennoch nicht ran. Bestimmt war es ein Anruf für ihre Mutter. „Mutti, es läutet!", rief Carina. „Na geh schon selbst ran, du stehst ja noch." Carina meldete sich schnell, bevor der Anrufer auflegen würde und war sehr überrascht. Am anderen Ende war Jessys Vater. Er klang entrüstet und angestrengt, sich im Zaun zu halten. Er erzählte, er sei gerade heim gekommen und Jessy sei verschwunden. Sie habe einen Zettel hinterlassen, einen Abschiedsbrief an ihre Eltern. Sie habe behauptet, es sei für sie gesorgt. „Hast du eine Idee, wo sie sein könnte? Sie ist schon ein paar mal bei Jule untergetaucht, doch dort habe ich schon angerufen. Ist sie etwa bei dir?" „Nein, nein..." „Hat sie mit dir darüber geredet?" Was sollte Carina sagen? Ihre Freundin hatte ihr nichts von einem Fluchtplan erzählt, aber sie hatte vor einigen Minuten noch mit ihr gesprochen. Von wo hatte sie bloß angerufen? „Jeder Hinweis ist wichtig. Wenn Jessica sich bei dir meldet, gib bitte Bescheid. Hier ist unsere Telefonnummer: Null...Eins....." Carina notierte die Nummer auf einem Block, der immer griffbereit am Telefon lag. Vielleicht würde sie es sich ja anders überlegen und dem Vater doch von dem Gespräch erzählen. Aber fürs Erste würde sie es lassen. Besorgt klang er nicht gerade, anscheinend lief Jessy öfters von zu Hause weg. Und bis jetzt war sie immer zurückgekommen.
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Gefangen
Teen FictionDiese Geschichte spielt in den Achtzigerjahren. Das Thema ist aber noch heute aktuell. Was das Thema ist? Lest das Buch einfach selbst und ihr werdet es erfahren!