Am nächsten Abend war Carina noch länger im Badezimmer als am Tag zuvor. Diesmal würde sie alles richtig machen. Die Hose saß am Hintern etwas zu knapp und hatte einen unpraktisch großen Schlag. Aber sie war toll. Musste sie, denn sie kam ja von Susi. Vor Mutters Schminktasche hatte Carina diesmal ordentlich zugegriffen. Mit dem lilafarbenen Lidschatten sah sie so gut aus wie noch nie. Sie hatte sich zuhause geschminkt, um nicht wieder alles zu verschmieren. Das Problem war, dass ihre Mutter sie so sehen würde. Um das zu vermeiden, lauschte Carina an der Tür. Sie hörte Schritte in der Küche. Aha, alles sicher. Sie lief zur Tür. „Tschüß, Mutti!" „Tschüß. Und denk dran, wieviel Uhr sollst du zuhause sein?" „Zehn..." „Kind, was ist das für eine Hose?" Mist, sie war aus der Küche in den Flur gekommen, um sich zu verabschieden. „Von Susi", antwortete Carina, ohne ihre Mutter anzuschauen. „Zeig dich mal von vorne." Widerwillig drehte sich die Tochter um. Die Neugierde der Mutter schlug in Empörung um. „Ach du liebe Zeit! Kind! So kannst du doch nicht rausgehen! Das Oberteil ist viel zu knapp und... du hast dich ja angemalt!" sie schlug ihre Hand vor den Mund. Carina schlug die Tür ins Schloss.
Derselbe Mann wie gestern stand am Eingang und ließ Carina mit einem Schmunzeln durch. Sie spürte Blicke auf sich, aber die waren nicht spöttisch wie gestern, eher interessiert. Carina tanzte zu a-ha und fühlte sich schon viel selbstbewusster als am Tag zuvor. Die Mädchen von gestern zogen an ihr vorbei und zwinkerten ihr anerkennend zu. Sie ging zur Bar und bestellte sich eine Cassis-Limo. Mit dem Getränk in der Hand stellte sie sich in eine Ecke und sah dem Treiben zu. Überall bewegten sich Leute durch die Disco, nur hier in der Ecke standen ein paar und rauchten. In Carinas Nase stank es immer noch ekelhaft und sie war nicht gerade erfreut, als ihr ein Junge einen Zug aus seiner Zigarette anbot. „Ich rauch nicht." „Cool." „Du machst es doch selbst." „Ja und? Darf ich dich nicht cool finden?" War das eine Anmache? „Doch..." jetzt hatte er Carina aber verlegen gemacht. „Möchtest du vielleicht was trinken?" Das bejahte sie gerne. Er verschwand und kam mit zwei Getränken wieder. „Komm, wir gehen raus."
Der Junge führte Carina durch die tanzende Menge zurück zum Eingang des Kristalls. Carina wusste eigentlich, dass man nicht mit Fremden alleine weggehen sollte. Jetzt hatte sie aber keine Angst, denn hier waren viele Menschen. Ein paar gesellten sich zu den zweien. „Wen hast du denn da mitgebracht?", fragte ein Mädchen mit glatten braunen Haaren, einem Rehgesicht und einem engen roten Pullover. „Ich bin Carina.", stellte sie sich selbst vor. Vor ihr standen viele Jugendliche, drei Jungen und zwei Mädchen. „Ich bin Jule und das ist Jessy", fuhr das Pullovermädchen fort. Jule stellte auch die anderen vor, allerdings konnte sich Carina ihre Namen nicht merken. Das war mal wieder typisch. Jule rauchte auch und hielt Carina ihre Schachtel hin. „Was, du rauchst nicht? Was bist du denn für eine?" Sie lächelte, aber Carina glaubte nicht, dass es nett gemeint gewesen war. „Och Jule, das hätte doch nicht sein müssen, so will keiner deine Freundin sein.", kicherte Jessy. Der Junge, der Carina hergebracht hatte, entschuldigte sich für seine Freunde. „Ja, da wird der Klaus ganz rot! Aber du bist doch keine Tomate!", erklärte Jessy. „Ist die besoffen?" fragte ein blonder, langhaariger Junge. Carina glaubte, dass er Bernd hieß. Er erhielt keine Antwort. „Jule, jetzt mach das wieder gut.", sagte Jessy mit vorwurfsvoller Stimme. „Es ist in Ordnung.", beschwichtigte Carina, denn ihr wurde die Situation zu komisch. Bernd mischte sich ein und wechselte das Thema: „Bist du heute das erste Mal im Kristall? Ich habe dich hier noch nie gesehen." „Ich war gestern schon mal da, aber nur kurz." „Warum nur kurz? Wurdest du rausgeschmissen?" „Nee, ich bin schon früher gegangen." „Aber warum?" „Hatte keinen Bock mehr..." Carina würde sich nicht mit der Wahrheit blamieren. „Und ihr? Seid ihr oft im Kristall?" Sie erfuhr, dass die fünf jede Woche kamen. Sie waren aus demselben Ort, gingen aber auf eine andere Schule. Bernd war schon fertig mit der Schule. „Und wie alt bist du?" Schlagartig herrschte Stille. Konnte Carina die Wahrheit sagen? „Vierzehn." „Jule auch." Jule sah von ihrer Zigarettenschachtel, die sie interessiert studiert hatte auf und machte mit Kippe im Mund „Mmh?" „Sie weiß jetzt dein Geheimnis.", stichelte Bernd. „Was?", sie nahm die Zigarette in die Hand „Du hast doch wohl nichts von... du weißt schon...erzählt?" „Das war nur ein Scherz, Julchen.", lachte Bernd kopfschüttelnd. „Nenn sie nicht Julchen!", schrie Jessy. Klaus meinte, es sei nun aber wirklich Zeit, dass Jessy gehe. Sie war anderer Meinung, doch Klaus schob sie weg und begleitete sie nach Hause.
„Tja, jetzt sind wir nur noch zu dritt.", meinte Jule. „Wieso? Wir sind doch vier?" Carina war verwirrt. Oder gehörte der andere Junge nicht dazu? Er stand zwar bei ihnen, hatte aber noch kein Wort gesagt. „Rainer zählt nicht. Wer sich nicht mal vorstellt, zählt nicht." Rainer hieß er also. Er reagierte nicht auf seinen Namen, sondern sah erst auf, als eine laute Gruppe Mädchen auf die Vierergruppe zusteuerte. „Carina, du schuldest Susi noch eine Hose. Wenn du eh nicht in die Disco gehst, kannst du sie gleich zurückgeben." Es waren die von gestern. „Ich geb sie dir morgen in der Schule." „Susi braucht sie aber jetzt!" „Hat Susi in die Hose gemacht oder was? Und kann sie nicht für sich selbst reden?", schnauzte Bernd grob. „Halt die Klappe und misch dich nicht ein, Schwulette. Und du, Carina, gibst jetzt die Hose her oder ich reiß sie dir vom Leib." Carina sah sich hilflos um. „Ich kann dir was von mir geben.", war das erste, was Rainer diesen Abend zu Carina sagte. „Quatsch, dann hast du ja nichts mehr.", klagte Bernd entgeistert. „Doch, doch, mein Mantel ist ja lang genug..." Rainer und Carina gingen hinter eine Hecke neben dem Kristall. „Ich guck schon nicht, ehrlich!", lachte Rainer, der sich unter seinem Mantel umzog. Carina versuchte auch, nicht zu gucken. Sie war froh, dass die Dunkelheit ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Wer wollte schon als Spanner dastehen?
Rainers Hose war gar nicht mal so groß, wie Carina gedacht hatte. Sie passte besser als die von Susi. Ihrer Mutter würde bestimmt nichts auffallen. Carina übergab Susi die Jeans. „Und jetzt haut ab, ihr Schnepfen!", gröhlte Bernd. Früher hatte Carina Angst gehabt vor brüllenden Männern. Aber Bernd schien okay zu sein und sie konnte ihn gut verstehen. Die Mädchen waren nicht sehr nett mit ihm umgegangen. „Sind das deine Freunde?", fragte Rainer. „Nein, ich hab sie gestern kennengelernt." „Jetzt wundert es mich nicht mehr, dass du früher gegangen bist.", bemerkte Jule. Ihre grünen Augen funkelten Susi und den anderen böse hinterher. „Wollen wir wieder reingehen?", fragte Jule. „Ich glaub, das ist zu gefährlich. Bernd und die Schnepfen... verstehen sich gerade nicht so gut.", antwortete Rainer. „Ich geh."
Jetzt waren nur noch Bernd, Rainer und Carina da. Carina wollte noch nicht nach Hause. Dabei war es schon halb zehn. Sie müsste jetzt gehen, wenn sie pünktlich sein wollte. Doch soweit dachte sie gar nicht. „Kennt ihr Geschäfte, die jetzt noch auf haben?" „Nein, aber wir können durch die Theater-Passage laufen und uns die Schaufenster anschauen." Carina stellte ihr Glas auf den Boden und sie liefen los. War das nicht gefährlich, mit zwei so alten Jungen alleine, nachts rauszugehen? Nein, es machte Spaß.
Die Passage war nicht weit vom Kristall entfernt. Gleich das erste Schaufenster gehörte zu einem Kleidergeschäft. „Das würde dir stehen, Rainer.", kicherte Bernd und zeigte auf ein orangefarbenes Cocktailkleid. „Naja, zu Carina passt es irgendwie besser." Sie lachten und gingen weiter. Irgendwann kamen sie an ein Reisegeschäft. „Japan. Da möchte ich mal hin." „Träum weiter, Bernd." „Was denn? Bist du schon weiter rumgekommen als zu deiner Oma ins Dorf?" „Ich war schon in Berlin!" „Ich war schon mal Skifahren in Italien.", warf Carina ein. Die Jungen staunten. „Hattest du Reisefieber?" „Was soll denn das sein?", lachte Carina verwirrt.
Es wurde später als spät und irgendwann meinte Bernd, Carina müsse jetzt nach Hause, sie sei schließlich erst vierzehn. „Ja und? Jule doch auch." „Aber du bist noch ...verletzlich." Bernd lachte über Rainers Wortwahl, doch der meinte es ernst. „Na gut. Wir gehen jetzt alle. Aber du, Rainer, gehst nicht alleine." „Warum nicht?" „Du siehst aus wie ein Stricher mit deinem Mantel ohne Hose." „Na und?" „Das ist gefährlich." Carina bot an, Rainer ein Stück zu begleiten, worüber die drei nur lachten, bis sich herausstellte, dass Rainer und Carina wirklich in die gleiche Richtung mussten. „Pass gut auf meinen Rainer auf!", rief Bernd ihnen noch hinterher.
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Gefangen
Novela JuvenilDiese Geschichte spielt in den Achtzigerjahren. Das Thema ist aber noch heute aktuell. Was das Thema ist? Lest das Buch einfach selbst und ihr werdet es erfahren!