100 Bürstenstriche machen das Haar geschmeidig. „88...89...90...91" Carina bürstete immer ruppiger. Sie war schon immer ein relativ ungeduldiger Mensch gewesen, noch dazu hatte sie nicht viel Zeit. Dabei musste sie heute das Beste aus sich machen. „Carina! Bist du noch im Bad? Ist alles in Ordnung?", drang eine gedämpfte Stimme durch die Badezimmertür. „Ja, Mutter..." Das Mädchen verdrehte genervt die Augen. „Kommst du wohl raus? Wir warten schon seit einer halben Stunde! Deine Schwester muss aufs Klo!" „Komme gleich...", erwiderte Carina. Dass ihre Schwester aber auch nie für sich alleine sprechen konnte... Sie packte ihre Bürste und das Schminkzeug ihrer Mutter, welches sie in ihren Hosentaschen verstaute, und schloss die Tür auf. „Wurde aber auch Zeit!", tadelte ihre Mutter. Carina warf sich eine Jacke über, schnappte sich den Ersatzschlüssel und verabschiedete sich von der Mutter. „Aber denk dran. Um zehn bist du zuhause, spätestens!" Die Tochter versprach, pünktlich zu sein und stürzte aus der Tür.
Während sie auf den Aufzug wartete suchte sie einen Lippenstift, den sie hatte mitgehen lassen. Sie war noch nie in der Disco gewesen mit ihren 14 Jahren, aber dass ohne Schminke nichts läuft, wusste ja praktisch jedes Baby. Schminken hatte sie bis jetzt immer nur mit vor dem Spiegel geübt, jetzt musste es auch ohne gutgehen. Der Lippenstift war eingetrocknet und schmeckte scheußlich, aber etwas Besseres stand leider nicht zur Verfügung. Für etwas Wimperntusche war noch Zeit, dann kam der Aufzug an. Zehn Stockwerke fuhr er in die Tiefe bis Carina im Erdgeschoss war.
Als hätte sie etwas verbrochen, verschwand sie so schnell wie es ging vom Hauseingang. Es war noch nicht einmal sieben, aber Carina wollte so viel Zeit wie möglich im Kristall verbringen. Der Kristall war die angesagteste Disco im Ort. Alle Jugendlichen, die etwas auf sich hielten, waren schon mal da gewesen. Der Weg zum Foxxx war den meisten zu weit, außerdem gingen dort größtenteils Leute aus anderen Orten ein und aus – und sehr zwielichtige Gestalten. Nein danke, Carina besuchte lieber den Kristall. Mit der Bahn fuhr sie eine Viertelstunde. Sie genoss die Ruhe und die Geschwindigkeit, bis eine laute Gruppe Jugendlicher einstieg. Wie sich herausstellte wollten sie auch in die Disco, denn sie stiegen an derselben Station aus wie Carina. Auch, wenn sie die anderen nicht kannte, fühlte sich das Mädchen mit ihnen in dieser Umgebung sicherer. Den Weg zum Kristall war sie schon gefühlte hundert Mal gelaufen. Immer hatte sie geträumt, diesen geheiligten Ort eines Tages zu betreten. In der Schule redeten alle davon. Aber keiner hatte sie jemals mitgenommen. In ihren Träumen hatte sich Carina ausgemalt, wie die beliebten Mädchen über den nächsten Besuch im Kristall redeten und eine rief „Na Carina, du kommst auch mit, keine Frage. Fast hätte ich dich vergessen! Du würdest unheimlich fehlen, also sag nicht nein! " . Das ganze Jahr, das sie schon auf der Schule war, hatte sie auf eine Einladung gewartet. Fehlanzeige. Nun hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und sich mit der hart erarbeiteten Erlaubnis ihrer Mutter alleine auf den Weg gemacht.
Carina war unglaublich gespannt. Vor ihr stand der Kristall, umgeben von wartenden Jugendlichen, manche qualmten. Sie selbst wurde von niemandem empfangen. Zielstrebig ging sie auf den Eingang zu. Laute Musik und klimatisierte Luft schlugen ihre entgegen. Ein junger Mann fragte nach ihrem Alter. „16" Ob er ihr das abnahm? Mit Schminke sah Carina älter aus und auch ihre Statur war schon recht erwachsen. Nach einem Ausweis fragte der Herr nicht. Er ließ Carina durch, wofür sie ihn am liebsten umarmt hätte. Jetzt würde ein neuer Lebensabschnitt anbrechen.
Carina hielt die Luft an und schloss die Augen, um den heiligen Moment auszukosten. Das funktionierte nicht ganz, denn augenblicklich wurde sie angerempelt. „Was machst du denn da?", blaffte sie ein Mädchen an, anstatt sich zu entschuldigen. „Gar nichts.", stotterte Carina beschämt und ging weg, ohne sich umzudrehen. Mann, war das peinlich! In der Wolke von Jugendlichen und Rauch ging sie komplett unter. Hoffentlich würde sie dem Mädchen nicht noch mal begegnen. Sie tanzte eine halbe Stunde unsicher vor sich hin und versuchte ruhig zu wirken. Ein Kratzen in der Kehle war die Reaktion auf all den Rauch in der Luft. Die Gitarrenklänge Bruce Springsteens zerrten an Carinas Trommelfellen. Aber sie würde nicht gehen. Nein, das musste so sein. Das Kratzen im Hals wurde stärker und das Mädchen hustete. Dafür kassierte sie einige verwirrte Blicke. „Sach ma. Wenn du Rauch nicht abkannst, dann kannste gleich verschwinden." Waren hier alle so gemein? Noch einmal würde sie sich nicht blamieren. Sie entschied, die Toilette aufzusuchen, um sich frisch zu machen.
Auf dem Klo war ein riesiger Andrang. Alleine würde sie nicht sein. Es war Carina unangenehm, nicht für sich zu sein, auch wenn sie nur den Lippenstift auffrischen wollte. Sie stellte sich vor einen der bespritzten, beschmierten Spiegel und schaute gleich wieder weg. Ihr Mund sah furchtbar aus. „Na Schnute, dein Mund sieht nicht so klasse aus wie du dachtest, ne?" Wer hatte das gesagt? „Kein Wunder, die ist ja auch erst vierzehn, da kann man sowas noch nicht gut." Erschrocken drehte sich Carina um. Da war das Mädchen, dass sie vorhin angerempelt hatte, zusammen mit einigen, die Carina aus der Schule kannte. Hier im Licht sahen ihre Gesichter merkwürdig aus, nicht so wie sonst. Lag es an der Farbe, die sie tonnenweise darauf geklatscht hatten? Nein, ihre Pupillen. Das musste vom Licht kommen. Ob Carinas Pupillen auch so groß waren? Bestimmt. Sie traute sich nicht, noch einmal in den Spiegel zu schauen. „Hat jemand Lippenstift?", war das einzige, was Carina gerade einfiel. „Für dich? Bestimmt nicht. Das hilft jetzt auch nicht mehr. Du siehst von oben bis unten kacke aus." Was? Wollten diese Tucken den besten Abend ihres Lebens verderben? „He, jetzt wein nicht. Das war nicht bös gemeint. Aber schau dich doch mal an. Du brauchst echt bessere Klamotten. Und neue Haare, Carina. So heißt du doch, oder?" Carina war still. Stimmte das? Sah sie lächerlich aus? „Hallo? Du bist doch die Carina, oder?" „Ja..." „Los, geh nach Hause, du bist ja schon ganz dicht. Kommst du morgen wieder?" „Mal schau 'n..." „Kommst du irgendwann wieder?" „Bestimmt..." „He Susi, hattest du nicht noch eine Hose? Die kannst du ihr ja geben." „Ja, schon... " „Gib Carina mal die Hose. Kann sie nächstes Mal anziehen. Dann sieht sie nicht mehr so kacke aus. " Susi übergab Carina eine Hose. Die Mädchen starrten die Junge an. Die wusste nichts besseres, als das Damenklo wieder zu verlassen. Sie würde nachhause gehen. Das nächste Mal, würde besser werden.
An der Haltestelle wartete sie auf einen Zug. Es war kurz nach neun erst, ihre Mutter würde sich freuen.

DU LIEST GERADE
Gefangen
Roman pour AdolescentsDiese Geschichte spielt in den Achtzigerjahren. Das Thema ist aber noch heute aktuell. Was das Thema ist? Lest das Buch einfach selbst und ihr werdet es erfahren!