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Doch Carinas Mutter erweichte nicht. Egal wie sehr Carina bettelte und argumentierte, sie ließ nicht einmal mit sich diskutieren. Meist endete es damit, dass Carina heulend und schimpfend in ihrem Zimmer verschwand. Was dachte sich ihre Mutter bloß dabei? Zwei Wochen waren viel zu lang, eine übertrieben harte Strafe. Im Hinterkopf hatte Carina allerdings von Anfang an gewusst, dass ihre Mutter das Haus bald für längere Zeit verlassen musste. Heute am neunten Tag, es war ein Freitag, würde sie zum Flughafen fahren, um ihren Mann, Carinas Vater, abzuholen. Carinas kleine Schwester würde mitkommen. Die perfekte Gelegenheit, um sich raus zu schleichen.

In Schale geworfen stand Carina vor verschlossener Türe. Oder besser hinter verschlossener Türe. Das durfte doch nicht wahr sein, ihre Mutter hatte sie eingeschlossen! Carina rüttelte am Schloss, aber nichts bewegte sich. Dieses Haus, dieses riesige Hochhaus, war sonst so billig gebaut. Da mussten sie an der Tür doch auch gespart haben. Carina ging zum Küchenschrank. In einer Schublade war das Werkzeug ihres Vaters. Nichts würde sie aufhalten, erstrecht nicht ein dummes Stück Holz mit einem Schloss dran. Mit einem Schraubenzieher und einer Feile öffnete sie das Schloss und klemmte ein Stück Schleifpapier in die Tür. So würde sie nicht abschließen und Carina könnte auch ohne Schlüssel wieder reinkommen, falls ihre Familie noch nicht zurück wäre. Carina würde versuchen, vor den Anderen wieder zuhause zu sein. Sie wollte nicht schon am ersten Tag des Wochenendes, am ersten Tag mit ihrem Vater, für Ärger sorgen.

Carina war erst einige Stationen mit der Bahn gefahren, da stieg Rainer hinzu. Einerseits freute sie sich, ihn wiederzusehen. Aber die Sache mit Bernd beschäftigte sie immer noch. Sie grüßte ihn nicht, sondern tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, bis er auf sie aufmerksam wurde. „Hallo Carina!" „Hallo Rainer!" Er lächelte. Manche Menschen lächeln so schön, dass es ansteckend ist und genau so war es bei Rainer. „Wo warst du die ganze Zeit?" Sollte sie es ihm erzählen? Ja, warum auch nicht. „Ich hatte Hausarrest.", betonte sie lässig. „Und ich dachte schon, du wärst nach Italien ausgereist!", beide lachten. „Was hast du angestellt?" „Hab ich vergessen, neun Tage- es ist schon lange her. Und da drin wird man vergesslich...", wieder lachten sie. Natürlich hatte sich Carina notdürftig etwas zusammengesponnen, denn die Wahrheit konnte sie nicht sagen. Vielleicht würde es dann Krach geben mit Jessy. „Gut siehst du übrigens aus... Deine Haare mein ich. Und die neuen Sachen.", sagte Rainer. „Du aber auch. Mit Hose. Kein Wunder, dass sogar Jungs dich mögen." Sie hatte es gesagt. Jetzt war es raus. Die Überleitung war ganz gut gewesen, aber zu früh. Noch hatten sie den Abend vor sich und der sollte nicht im Streit enden. „Wie kommst du jetzt darauf?" „Na Bernd und du. Ihr seid doch...?" Hatte Jessy nun doch Mist erzählt? Carina hätte nachfragen müssen. „Woher weißt du das?" „Och... hab ich gehört." „Jessy hat's dir erzählt, oder?" „Nein!" „Es ist nicht schlimm, sie kann halt nichts für sich behalten." Rainer lächelte sogar! Sein reines Rainer-Schmunzeln. „Also stimmt's?", hakte das Mädchen zögernd nach. „Ja, wir sind zusammen." Carina fand es interessant. Aber vor allem war sie enttäuscht. Nicht, dass sie sich Hoffnungen gemacht hätte. Immerhin war Rainer schon siebzehn und somit drei Jahre älter. Er machte sich eh nichts aus jungen Mädchen. Bernd war ungefähr genau das Gegenteil von Carina.

Lange Zeit sahen die beiden einfach aus dem Fenster. „Bist du jetzt sauer?", fragte Rainer. „Nein. Nein!" „Tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen." „Warum? Wir kennen uns noch gar nicht lange. Ich hab keinen Anspruch darauf, alles über dich zu wissen. Es ist in Ordnung." War das zu forsch gewesen? „Dann ist ja gut." Die Bahn kam zum Stehen. „Wir fahren zusammen zurück, ja?", fragte Rainer. Ja, würden sie. Hoffentlich.

Vor der Disco warteten schon die anderen. „Da seid ihr ja endlich!", begrüßte sie Klaus. Sie gingen schweigend in den Kristall. Die anderen vier hatten Rainers und Carinas bedrückte Stimmung schon aufgenommen.

Im Kristall war es laut und voll, schließlich war heute Freitag. Die Freunde blieben zusammen, doch reden konnten sie nicht. Man verstand sein eigenes Wort nicht, so laut war es. Klaus kaufte Carina ein Getränk, so wie gestern. Nur schmeckte es diesmal anders und danach fühlte sich Carina leicht verdreht. Sie lief auf Rainer, der bis dahin nur in einer Ecke gestanden hatte, zu, nahm seine Hand und tanzte mit ihm. Zuerst war er verwirrt, doch dann machte er mit und hatte sogar Spaß. Er lachte zumindest.

Carina hätte fast die Zeit vergessen, denn daran dachte sie in dem Moment gar nicht. Allerdings wurde es Rainer irgendwann zu laut und da entschieden die Zwei, nach draußen zu gehen. Gerade jetzt schlug die Kirchturmuhr. „Viertel nach neun! Du, ich muss nach Hause!" „Was, schon so früh?" Rainer dachte nun bestimmt, dass es kindisch war so früh zu gehen, das hatte sie vermeiden wollen. Doch dann setzte er nach: „Gehen wir, ich will eh nicht nochmal rein. Freitags ist es immer zu voll." Er ging ein Stück vor und drehte sich nach Carina um: „Hast du was?" Seine Augen reflektierten das Licht der Straßenbeleuchtung. „Nein... wollen wir nicht den anderen Bescheid sagen?" „Nein, die können sich denken, was sie wollen."

Sie saßen in der Bahn und redeten wieder. „Warum tanzt Bernd nicht mit dir?", fragte Carina. „Ich glaube, ich muss da mal etwas klarstellen. Also Bernd und ich... sind nicht richtig zusammen. " „Wie jetzt?" „Er braucht mich einfach. Und deshalb bleibe ich bei ihm." „Aber ihr liebt euch doch, oder?" „Du verstehst das nicht..." Rainer schüttelte den Kopf. „Dann erklär's mir. " „Bernd hat niemanden außer mir. Zumindest niemanden, den er öfter als zweimal sieht. Und all die anderen Jungen, interessieren sich nicht für ihn. Nur mir kann er vertrauen. Wenn er Probleme hat, kommt er zu mir. Und wenn er bei mir ist, geht es ihm gut, sagt er." „Also seid ihr doch zusammen?" „Nein. Es ist mal so, mal so. Ich könnte auch jederzeit gehen. Mir ist es egal. Aber für Bernd macht es einen Unterschied. All die anderen Jungen, die er sieht, können mich nicht ersetzen. Das hat er gesagt und ich weiß, dass es stimmt." „Würdest du ihn jemals verlassen?" Das war eine schwierige Frage. Rainer sah zur Seite und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Wenn es das wert ist."

Carina war pünktlich zuhause gewesen. Sie war ohne Probleme ins Haus gekommen, hatte das Werkzeug weggeräumt und sich umgezogen, später ihren Vati begrüßt und sich in ihr Zimmer verzogen. Rainer hatte sie erzählt, sie wäre die nächsten fünf Tage sehr beschäftigt und könnte deshalb nicht kommen. Er hatte es verstanden. Sie war nicht chancenlos. Vielleicht, überlegte sie, vielleicht war sie Rainer etwas Wert.

GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt