Als Carina endlich Schulschluss hatte, versuchte sie, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Sie nahm nicht den langsamen Aufzug, auf den man zehn Minuten warten musste, sondern lief sämtliche Stockwerke bis zu ihrer Wohnung die Treppe hinauf. Selbst wenn das länger dauerte, hatte sie doch das Gefühl, schneller zu sein, weil sie immer in Bewegung war. An der Wohnungstür begrüßte ihre Mutter sie. „Hallo, Mutti." „Wie war die Schule?" „Gut, ist das Essen schon fertig?" Das „Gut" war eine glatte Lüge. Im Unterricht hatte sie sich kaum konzentrieren können und mehrmals wäre sie fast eingeschlafen, so müde war sie gewesen. Jetzt aber, war sie wieder hellwach, denn heute Abend würde es in den Kristall gehen. „Einen Moment noch, du kannst noch in dein Zimmer gehen."
Carina schmiss ihre Schultasche aufs Bett und öffnete ihren Kleiderschrank. Was würde sie heute Abend anziehen? Ihre Anziehsachen waren wirklich nicht Disco-tauglich, die Hose von Susi hatte sie nicht mehr und auch in Rainers Hose konnte sie nicht gehen. Wenn doch nur ihre Mutter die gleiche Größe wie sie hätte... Am Ende hatte sie Sportschuhe, einen knielangen Rock und einen Rollkragenpullover, was eindeutig nicht zufriedenstellend war. Aber gar nicht zu gehen, kam nicht infrage. Sie musste die anderen wieder treffen. Hoffentlich war ihnen der Look egal.
„Carina, warum isst du denn so schnell?" „Ich habe wenig Zeit." „Hast du heute noch was vor?" „Ja... -ich gehe in den Kristall." „Da habe ich vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden!" „Vielleicht... du lässt mich doch, oder?" Die Mutter seufzte und überlegte kurz. „Na gut. Eigentlich wäre es nur gerecht, dich hierzubehalten. Das ist deine Chance, zu zeigen, dass gestern eine Ausnahme war und du dich zu benehmen weißt." „Danke!" Carina war froh, dass ihre Mutter ihr so viel durchgehen ließ. Was wäre bloß passiert, wenn sie ihre neuen Bekanntschaften heute im Stich gelassen hätte?
Missmutig und nervös saß Carina in der Bahn. Sie hatte sich geschminkt aus dem Haus geschlichen, nur damit ihre Mutter nicht doch noch ihre Meinung änderte. Was würden die anderen denken? Wie wären sie heute drauf?
Zu Carinas Erleichterung, wurde sie nicht aufgrund ihrer Kleidung verstoßen. Jule war allerdings etwas skeptisch „Also eigentlich hättest du auch Rainers Hose anbehalten können. So kommst du genauso wenig in die Disco rein. Außer, du willst dich zum Gespött machen." Klaus zischte Jules Namen, doch sie hatte schon alles gesagt. „Nicht weinen, Carina. Es gibt noch Hoffnung. Ich kann mit dir einkaufen gehen, wenn du möchtest. Nur wir beide... ich such dir was Nettes aus.", bot Jessy an. Carina war sich nicht sicher, sie hatte kein Geld. Doch die Anderen fanden die Idee gut. Es sei nur zu Carinas Bestem. Also zogen sie und die verrückte Jessy los.
Carina erwähnte noch einmal, dass sie kein Geld habe. „Kein Problem.", meinte Jessy. Doch, eigentlich war es ein großes Problem, denn wie kann man ohne Geld einkaufen? Als die zwei an einer Bank vorbei kamen, verschwand Jessy darin und kam kurze Zeit später mit fünf Hunderter-Scheinen wieder raus. Carina konnte ihren Augen nicht trauen. „Sag mal hast du eine Bank ausgeraubt oder was?" „Nein, nicht nötig." „Dann erklär mir das.", forderte Carina und zeigte auf die Scheine. „Meine Eltern sind reich. Für die sind 500 Mark eine Kleinigkeit. Das fällt gar nicht auf, wenn ich mal ein bisschen von ihrem Konto abhebe. Meine Tante sagt immer, ich wäre meiner Mama wie aus dem Gesicht geschnitten." „Wie? Und du machst das einfach so?" „Klar, du denkst zu viel nach. " Etwas komisch dabei war Carina schon, aber sobald sie im Laden standen vergaß sie ihre Zweifel. Sie konnte alles kaufen, was sie wollte. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie so viel Geld.
Zuerst gingen sie in einen Klamottenladen und kauften eine enge Röhrenjeans und ein Trägertop. „Mann, siehst du gut aus!", meinte Jessy. „Aber du brauchst eigene Kosmetik. Die von deiner Mutter zu benutzen, ist echt obereklig." Sie betraten eine Drogerie. „Du, schau mal.", rief plötzlich Jessy. „Was ist da?" „Blondierung!" „Und was sollen wir damit?" „Wir können deine Haare machen, was sonst. Das sähe bestimmt super aus!" „Spinnst du?" „Nein, ehrlich. Wir kaufen eine Packung. Guck, mal was da drauf steht. Schönstes blond innerhalb von 45 min. Das machen wir noch heute, bei mir zuhause." Gegen Jessy konnte man sich nicht durchsetzen, vor allem, wenn sie so überzeugt war. Mit lauter Döschen Schminkzeug, Nagellack und der Haarbleiche verließen sie die Drogerie. Die 500 Mark waren gut ausgeschöpft.
Eigentlich hatte Carina keine Lust auf blonde Haare. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und glaubte auch nicht, dass es besonders gut aussehen würde. Erstrecht nicht wollte sie zu Jessy nachhause. „Erlauben das deine Eltern überhaupt, dass du einfach so jemanden mitbringst?" „Natürlich! Was bleibt ihnen auch übrig?" „Können wir nicht zurück zu den anderen gehen?" „Nein. Auch wenn Klaus sich freuen würde." Klaus? Ach der... „Was ist mit dem?", fragte Carina nach. „Hast du es etwa noch nicht gemerkt? Der steht auf dich. Aber sowas von!" „Ach, Quatsch." Diesen Gedanken wollte Carina verdrängen. „Doch klar. Und du auch auf ihn, oder?" „Spinnst du? Nein!" Mochte ja sein, dass er ganz nett war, aber Carina kannte ihn praktisch nicht. „Auf wen denn dann? Rainer und Bernd kommen ja wohl nicht infrage." „Wie? Warum?" Jessy brach jetzt komplett in Gelächter aus. „Man merkt es vielleicht nicht, aber die beiden sind zusammen. " Was? Der stille Rainer und Bernd waren ein Paar? Carina war sprachlos, zu sehr arbeiteten ihre Gedanken. „Schockt dich das?" „Nein... nein...", wollte Carina ausweichen. „Nur, weil sie nicht so schwul aussehen..." murmelte Jessy ärgerlich und beschloss, dass sie jetzt zum Haare färben gehen würden.
Unterwegs dachte Carina nur über Rainer und Bernd nach. Jetzt verstand sie auch, was gestern passiert war. An der Bahn. Sie hatte auf „Bernds" Rainer aufpassen sollen. Und mit der Hose. Am Kleidergeschäft... Sie hatte gestört. Die beiden hätten für sich sein können. Aber warum hatte keiner etwas gesagt? War es ihnen peinlich? Dachten sie, Carina hätte etwas gegen Schwule?
„Hallo Mama, hallo Papa!" „Hallo Jessica, hast du eine Freundin mitgebracht?" „Ja, das ist Carina!" Mehr redeten sie nicht. Hier war es ganz anders, als in Carinas Wohnung, allein schon, weil das Haus etwa fünfmal so groß war. Es lag ziemlich außerhalb und war von einem Garten umgeben. Überall standen Bücherregale und teuer aussehende Möbel aus Ebenholz. Jessy passte gar nicht dazu. Wenn man sie ansah, wäre man nie im Leben darauf gekommen, dass sie aus reichem Elternhaus stammt. Eher das Gegenteil...
Jessy führte Carina ins Badezimmer, welches eine freistehende Badewanne mit Kerzenhaltern beherbergte und mit türkisenem Marmor gefliest war. „Da guckst du, ne?" Jessy nahm eine Flasche Champagner, die neben der Wanne stand und trank einen Schluck. Dann fing sie an, in einer Aluschale die Blondierung anzurühren. Gekonnt klatschte sie Carina die Masse in die Haare. Sie machte das wohl regelmäßig für sich selbst. „Meinst du, das steht mir?", grübelte Carina. „Na sicher! Blond ist angesagt." Während die Blondierung einzog, kramte Jessy im Badezimmerschränkchen. Sie probierte teure Parfums und Cremes aus. „Die interessanten Sachen haben sie weggeschlossen..." „Was meinst du damit, Jessy?" „Na, das Valium und so..." „Ach, Quatsch..." Als ob ihre reichen Eltern oder Jessy sowas nehmen würden. Sie war erst 15, fast 16. Nie im Leben!
„Carina! Wie siehst du schon wieder aus? Was hast du mit deinen schönen Haaren gemacht? Die sind ja ganz kaputt! Und es ist halb elf. Dir kann man nicht mehr vertrauen, schrecklich ist das. Zieh jetzt sofort dieses Zeug aus und gib es mir!" Carina war zugegeben selbst nicht auf Anhieb von dem Blond überzeugt gewesen. Ihr schmales Gesicht sah nun ganz blass aus. Doch all die Zweifel verflogen, als die Mutter so schimpfte. Was ihrer Mutter nicht gefiel, musste Spaß machen. „Ma! Müsstest du dir nicht sorgen machen?" „Einen Dreck muss ich mir machen! Und ich bin deine Mutter, also nenn mich auch so. Wir sind hier nicht bei den Barbaren!" „Jessy darf das auch. Und ihre Eltern sind sogar reich." „Ich kenn keine Jessy! Und jetzt geh ins Bett. Du hast zwei Wochen Hausarrest." „Nein, Mutter! Das kannst du nicht machen." „Und ob ich das kann! Langsam platzt mir der Kragen. Und wenn du jetzt nicht gehst, knallt's!" Carina war den Tränen nahe. Wie konnte ihre Mutter? Wie konnte sie so schreien? Und wie sollte Carina zwei Wochen Hausarrest durchstehen? Nein, das würde sie nicht, das könnte sie nicht. Gerade jetzt musste Carina Rainer sprechen. Ihre Mutter müsste erweichen!
DU LIEST GERADE
Gefangen
Teen FictionDiese Geschichte spielt in den Achtzigerjahren. Das Thema ist aber noch heute aktuell. Was das Thema ist? Lest das Buch einfach selbst und ihr werdet es erfahren!