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Endlich, endlich war der Hausarrest vorbei. Zwei Wochen waren vergangen, seit Carina das letzte Mal erlaubt draußen gewesen war. Ihre Mutter hatte sie sogar von der Schule abgeholt, um sicher zu gehen, dass Carina nach Hause kam. Natürlich bat Carina gleich am ersten Tag in Freiheit um Erlaubnis, den Kristall zu besuchen. Ihre Mutter erlaubte es, da der Hausarrest abgesehen von dem unbemerkten Ausbruch, gut verlaufen war. Sie war sogar glücklich, ihre Tochter in den Abend zu entlassen zu können.

Carina zog ihre Discokleidung an und rannte zur Bahnstation. Sie konnte es kaum erwarten, die anderen zu sehen. Ein wenig enttäuscht war sie schon, als Rainer nicht in die Bahn stieg. Sie hätte gerne wieder mit ihm allein geredet. So musste sie die Spannung bin zum Kristall halten.

Vor dem Eingang erwarteten sie wie früher ihre Freunde. Als sie Carina sahen, lachten sie und Jessy hieß sie mit Umarmungen willkommen. „Wir dachten schon, du wärst untergetaucht, ohne uns was zu sagen!", warf Jule Carina vor. Klaus lächelte nur. Zusammen gingen sie rein. Jessy rannte sofort auf die Tanzfläche und wollte Carina mitziehen, doch diese entschied, heute mal bei Klaus zu bleiben. Den kannte sie nämlich fast noch gar nicht, obwohl sie ihm ihre neuen Bekanntschaften u verdanken hatte. Bernd und Rainer wollte sie nicht stören und Jule hatte sich gleich an den Tresen gesetzt, als sie dort irgendjemanden entdeckt hatte. „Willst du was trinken?", fragte Klaus und sorgte damit für ein Lächeln auf Carinas Lippen. „Ja, gerne." Mehr brachte sie nicht heraus. Dieser Klaus, der ihr jedes Mal ein Getränk kaufte, war schon ziemlich seltsam. Aber nett und spendabel dazu!

Klaus kam mit zwei dünnen, hohen Gläsern, die mit einer violetten Flüssigkeit gefüllt waren, wieder. „Was ist das?", fragte Carina lachend. „Ist eine Überraschung." Sie probierte einen Schluck. Es schmeckte sauer, aber gut. Das Mädchen merkte, wie die Flüssigkeit auf der Zunge prickelte. Wie kam Klaus bloß an Alkohol? Er sah noch nicht einmal aus wie sechzehn. Er riss die Nachdenkliche aus ihren Gedanken: „Gehen wir?". Carina nahm Klaus' Hand und ließ sich auf die Tanzfläche führen. Ein langsames Lied stimmte ein, total klischeehaft. Sie tanzten zu den Gitarrenklängen und Carina merkte, wie ihr das Getränk zu Kopf stieg. Klaus sah ihr in die Augen, die ganze Zeit. Dann streckte er erneut seine Hand aus und legte sie um Carinas Taille. Sie wusste, nicht, was sie tun sollte. Eigentlich wollte sie Klaus nicht näher kommen. „Können wir rausgehen?" Alles drehte sich. Ob es an Klaus oder dem Getränk lag, konnte Carina nicht sagen. „Willst du mit zu mir kommen?" Carina hatte die Frage nur halb verstanden, nickte aber.

Carina schleppte sich zur Bahnhaltestelle. Sie mussten rennen, um den Zug rechtzeitig zu bekommen. Das war nicht leicht und Klaus musste Carina durch die Tür führen. Sie setzten sich zusammen auf einen vierer-Platz, ohne das Ticket abzustempeln. Als die Bahn anfuhr, spürte Carina eine Welle on Übelkeit aufsteigen, lehnte sich zurück und versuchte, das alles auszublenden.

Das nächste, was Carina wahrnahm, war, dass ihre Beine über den Boden geschliffen wurden. Sie öffnete die Augen. „Na endlich bist du wach! Jetzt steh auf und komm, du musst an die frische Luft!" Klaus hatte sie getragen! Zwar hatte er es nur bis in die Bahnhofshalle, wo sie auch jetzt standen, geschafft, aber es war trotzdem Beachtung wert. Carina versuchte sich hinzustellen, taumelte ein bisschen und wurde von Klaus aufgefangen. Er stützte sie und half ihr auf die Rolltreppe. „Wo sind wir?" Carina bezweifelte, dass sie die Gegend in nüchternem Zustand erkannt hätte. „Auf dem Weg nach Hause." „Ist es noch weit?", fragte sie. „Nein, ich wohne ganz in der Nähe."

Carina ließ sich von Klaus über den Bürgersteig führen. Sie liefen ein paar wankende Meter. Die Häuser reihten sich links und rechts wie die Sardinen aneinander, drei sich türmende Stockwerke. Sie schienen sich über die Straße zu beugen, um Carina aus ihren vielen eckigen Fensteraugen anzuschauen. Dann ging es eine Treppe hoch zu einem Hauseingang. Sie betraten eines der gebeugten Häuser. Im Hausflur roch es nach Keller und Lack. Carina war schlecht, furchtbar schlecht. Auch die Treppenstufen wandten sich unter ihrem Blick, drehten sich nach oben und nach unten. Klaus wohnte zum Glück im Erdgeschoss. Die Wohnungstür lag hinter einer Ecke und war nicht abgeschlossen. Sie stand offen und Klaus führte Carina direkt durch ins Badezimmer. Überall hingen bunte Handtücher, die vor Carinas Augen furchteinflößende Gestalten annahmen. Die Farben pochten in ihren Augen und ihrer Magengegend. Klaus wollte sie zur Toilette führen, doch Carina schloss ihre Augen vor den Bildern und brach einfach auf dem Boden zusammen. Klaus rüttelte an ihrer Schulter, doch sie drehte ihren Kopf weg. „Wenn du schlafen willst, kannst du dich auch an einen gemütlicheren Ort legen." Der geflieste Fußboden mit Fußmatte reichte Carina völlig und eigentlich wollte sie nur, das Klaus sie in Ruhe ließe. Jedes Geräusch, jede Bewegung ließ die Schmerzen durch ihren Kopf zucken. Sie wollte nur nach Hause.

Klaus fragte nach der Telefonnummer ihrer Eltern. Mit aller Mühe brachte Carina die Ziffern heraus. Ihre Mutter würde sich sicher über den Anruf freuen. Das Mädchen hörte Klaus noch im Nebenzimmer reden. Dann fiel es in einen tiefen Schlaf.

Beim Aufwachen fühlte sich Carina sehr gesund, wie nach einer Kur. Sie war nicht müde, hatte keine Schmerzen und war glücklich. Sie lag in einem gelb bezogenen Bett, in einem gelb tapezierten Zimmer. Durch ein kleines Fenster mit Holzrahmen schien die Mittagssonne, ebenfalls gelb. Wo war sie? Es sah aus wie ein Kinderzimmer, bis auf die Poster an der Wand. Poster von Michael Jackson. Sie drehte sich um und spürte dabei, dass sie etwas zu große, steif gebügelte Kleidung trug. Seitlich hinter ihr saß Klaus auf einem Stuhl. „Na, gut geschlafen?" „Ja, und du?" Etwas Besseres fiel Carina nicht ein. Klaus lachte, „Du hast vielleicht Nerven! Mutter zu erklären, wo du herkommst, war nicht gerade einfach. Was meinst du wie ich betteln musste, damit sie deinen Eltern nicht bescheid sagt..." „Hast du nicht selbst mit meiner Mutter telefoniert?" „Ja, ich habe mich als Vati ausgegeben und ihr gesagt, du würdest bei einer Freundin übernachten. Begeistert war sie nicht, aber mit ein bisschen gut zureden..." „Danke! Aber dann muss ich jetzt wohl besser schnell nach Hause... " „Ich fürchte, da musst du dich noch gedulden, bis die Wäsche fertig ist. Mutti ist gerade dabei." Carina wagte nicht, zu fragen, was mit ihrer Kleidung passiert war. „Ist deine Mutter arg sauer?" „Das kann man wohl sagen." Carina bemerkte die Rötung aus der Wange ihres Freundes. „Ich kann nicht versprechen, dir in nächster Zeit ein Getränk kaufen zu können." „Ich glaube das musst du gar nicht mehr, nach gestern Abend...", sagte Carina mit einem schiefen Lächeln. Eigentlich war sie ziemlich sauer darüber, dass Klaus ihr einfach Drogen gegeben hatte.

Klaus' Mutter kam mit einem Stapel Wäsche herein. „Hier ist dein Zeug, du kannst dich im Bad umziehen." Sie sah sehr besorgt aus. Carina bedankte sich, nahm ihr den Stapel ab und suchte sich den Weg ins Bad. Die Wohnung war klein. Von einem winzigen Flur aus konnte man alle Zimmer betreten. Die Fußmatte auf der Carina am Tag zuvor ihren Kopf abgelegt hatte war durch einen knallroten Vorleger ersetzt. Schnell zog sie sich um und versuchte, den altmodischen Anziehsachen von Klaus' Mutter, die sie trug, nicht zu viel Beachtung zu schenken.

Vor der Badezimmertür wartete Klaus mit seiner Mutter. „Verabschiedet euch besser herzlich. Auf ein Wiedersehen müsst ihr beide wohl länger warten." Ihr Vorwurfsvoller Ton war kaum zu überhören. Carina verabschiedete sich mit einem Winken und ging durch die noch immer offen stehende Tür.

Nur eine Linie fuhr von der Straßen, an der Klaus wohnte, aus. Carina musste sie nur in richtige Richtung nehmen, dann wäre sie beim Kristall und könnte wie gewohnt nach Hause fahren.

„Nein, Carina. Ich bin dir nicht bös' . Ich gönn es dir ja. Aber bitte sag doch beim nächsten Mal vorher bescheid. Und benutz bei deiner Freundin nicht allzu viel Parfüm. Das stinkt ja bis zum Himmel hoch." Da hatte ihre Mutter recht, das Waschmittel, das Klaus' Mutter benutzt hatte roch erbärmlich. Aber im Stillen war sie sehr dankbar. Dieser Abend hätte um einiges schlimmer verlaufen können.

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