6. Ein Gedanke.

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Ich schaue mich im Spiegel an. Das Kleid, das Violet für mich ausgesucht hat, ist schwarz und kurz, mit dünnen Trägern.
Violet hat meine Augen geschminkt, stärker als ich es sonst mache, aber es gefällt mir, sehr gut sogar.

"Du siehst wunderschön aus, Süße." Meine Mom kommt in mein Zimmer und betrachtet gemeinsam mit mir mein Spiegelbild. Ich lächle. "Danke, Mom."

Sie kommt zu mir und küsst mich auf die Wange. Der übliche Geruch von Lavendel steigt mir in die Nase und ihre braunen Haare kitzeln mich im Gesicht. Ich blicke sie an.

Meine Mom sieht müde aus. Jeder andere würde es vermutlich nicht bemerken, da ihre hellblauen Augen leuchten, und sie ein Lächeln trägt, bei dem man ihre schönen weißen Zähne sieht. Doch ich kenne sie besser.

Meine Mom muss so viel arbeiten, um uns beide zu versorgen, außerdem muss sie das ziemlich hohe Schulgeld bezahlen.
Sie schuftet sich Tag für Tag ab. Für mich. Ohne je ein einziges Wort der Beschwerde zu verlieren.

"Ich liebe dich, Mom", sage ich und drücke sie ganz fest.

"Hey, ich will ja ungern stören, aber ich denke, wir sollten dann los, Rose." Violet kommt aus meinem Bad und ich löse mich von meiner Mom.

"Violet, wie geht es dir? Du siehst fantastisch aus." Das stimmt. Mit ihrem noch kürzerem roten Kleid, ihren hochgeteckten braunen Haaren, dem bisschen Make-up und den hohen Schuhen, ist Violet wunderschön.

"Danke, Kate. Mir gehts super und dir?"

"Mir gehts es auch gut." Ihr Lächeln ist strahlend. Meine Mom mag Violet sehr und vertraut ihr, was für mich ein großer Vorteil ist. Meine Mom erlaubt mir so gut wie alles, solange Violet dabei ist.

"Ich will euch nicht aufhalten. Habt Spaß und passt auf euch auf, Mädchen. Und Rose, bitte grüß Josh von mir. Ich finde es wunderbar, das du eure Freundschaft wieder auffrischen willst. Er ist echt ein toller Junge." Meine Mom küsst mich noch einmal auf die Wange und verlässt mein Zimmer.

Mein Dad und meine Mom sind wohl die einzigen Menschen, die wirklich wissen, welche Freundschaft ich zu Josh hatte. Sie haben uns gemeinsam erlebt. Sie wissen, wie tief wir uns verbunden fühlten und das wir alles zusammen machten.

Dennoch habe ich meinen Eltern nie erzäht, wieso wir nun so distanziert miteinander umgehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich es selbst nicht genau weiß. Josh und meine Freundschaft hatte keinen klaren Schluss. Da war nur dieser Streit und dann hat die Zeit den Rest erledigt.

Wir fingen gemeinsam an der neuen Schule an und irgendwie gingen wir dann beide unseren eigenen Weg.

Josh war von Anfang an bekannt, ich blieb im Hintergrund. Josh hatte immer eine Freundin und Freunde um ihn herum, ich hatte, bevor ich Violet kennenlernte so gut wie niemanden.

Und natürlich war da das mit meinem Dad. Das war wohl der Moment, in dem ich wusste, dass Josh und ich keine Freunde mehr sind. Es war der Moment, in dem ich wirklich begriff, dass ich Josh nichts mehr bedeute.

Es kam so unerwartet. Als ich an diesem Tag, der sich mir ins Gedächnis gebrannt hatte, aufstand, war alles ganz normal.

Ich machte mich für die Schule fertig, frühstückte mit meiner Mom und meinem Dad, verabschiedete mich und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle, nicht weit von unserem Haus entfernt. Noch heute kann ich das leise Lachen meines Dads hören, als ich in damals auf die Wange küsste.

Das war das letzte Mal, dass ich ihn hörte oder überhaupt sah.

Als ich von der Schule heimkam, war er fort. Und all seine Sachen mit ihm. Erst begriff ich gar nichts, doch dann fand ich den Zettel auf dem Küchentisch.

"Es tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben. Ich ziehe weg aus dieser Stadt.
Ich habe jemand anderen kennengelernt und mich verliebt.
Kate, bitte gib nicht dir die Schuld, denn du hast nichts falsch gemacht. Bitte glaub auch nicht, dass ich dich nie geliebt habe, denn das habe ich.
Ich weiß, dass du eine wundervolle Mutter bist und ich bin überzeugt davon, dass du es ohne mich schaffst.
Rose, mein Grashüpfer, du bist das Beste in meinem Leben. Ich liebe dich und das werde ich auch immer.
Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen."
Ian

Das wars. Alles was mein Dad von sich dagelassen hat, war dieser dämliche Brief. Ich habe ihn sofort zerissen und dann solange geweint, bis keine Tränen mehr übrig waren.

Mein Dad hat mich verlassen.
Für eine andere Frau, hat er seine einzige Tochter verlassen.

Ich war diejenige, die es meiner Mom erklären nusste, als sie nach Hause kam und keine Ahnung hatte, was passiert war.

Ich musste ihr erklären, dass ihr Mann, den sie so sehr liebte, sie für jemand anderen verlassen hat. Ich musste ihr erklären, dass sie nun alleine war; dass sie mich jetzt alleine großziehen muss.

Es war furchtbar sie so weinen zu sehen. Das werde ich nie vergessen und ich werde meinem Dad nie verzeihen, dass er ihr das angetan hat, niemals.

Diese Zeit war die Hölle für mich. Einige Tage ging ich auch nicht in die Schule und wollte auch nichts essen.
Aber das mit Abstand Schlimmste war, dass Josh nicht bei mir war. Das hat mich zerstört.

Ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn mehr, als alles und jeden anderen, aber er war nicht da. Er war nicht da, um mich zu trösten; er war nicht da, um sich neben mich zu legen und er war auch nicht da um mit mir gemeinsam alleine zu sein.

Er ließ mich alleine alleine mit all den Gefühlen und Gedanken.

Da wurde mir klar, dass alles, was zwischen uns war, vorbei ist. Unsere Freundschaft, unsere Verbindung, unsere Liebe zueinander.

"Rose", Violets Stimme reißt mich mit einem Ruck aus meinen Gedanken. "Komm, Rose, wir müssen los."

Violet nimmt meine Hand und zerrt mich zur Tür hinaus.

Die Party findet nicht in Joshs Haus gegenüber statt, sondern in Daniels Haus, fünf Häuserblocks entfernt.

Violet steigt in ihr Auto ein und ich setze mich auf den Beifahrersitz. Sie hat natürlich ein eigenes Auto. So unfair.

Wir fahren ohne ein Wort zu sagen.
Als wir ankommen, bin ich überrascht, wie schön Daniels Haus ist. Er schmeißt ständig Partys, deshalb habe ich eigentlich erwartet, einen Garten voll Plastikbecher oder Glasflaschen vorzufinden. Tatsächlich ist er aber sehr schön. Überall blühen kleine Blumen und in der Mitte des Gartens führt ein dünner Steinweg zur Eingangstür.

Violet testet ihr Make-up noch einmal im Seitenspiegel, dann lächelt sie mich an und geht voraus zur Tür. Ich fühle mich in dem kurzen Kleid leicht unwohl. Es hat einen weiten Rückenausschnitt und da meine Haare offen sind, spüre ich sie auf meiner nackten Haut.

Ich will bei der Tür stehen bleiben um anzuläuten, doch Violet macht sie einfach auf und geht hinein und ich folge ihr ins Haus.

Nach einem langen Gang mit sehr vielen Bildern an den Wänden, auf den meisten ist Daniel mit seinen Geschwistern zu sehen, kommen wir in ein großes, sehr großes Wohnzimmer.
Es sind schon viele Leute da, die sich zur leisen Musik bewegen. Da es eine Überraschungsparty für Josh sein soll, darf man sie von draußen noch nicht hören.

Violet hat mir erzählt, dass Daniel Josh zum Fußballspielschauen eingeladen hat.
Anscheinend hat er keine Ahnung, was ihn erwartet.

Ich sehe mich in dem spärlich beleuchteten Raum um. Auch von innen ist das Haus sehr schön. Es stehen rote Sofas mit Lederbezug im Wohnzimmer, die farblich perfekt zu den Vorhängen passen. Sogar mehrer Bücherregale stehen an den Wänden.

Da ich sonst nichts zu tun habe und Violet in der Menge untergetaucht ist, vermutlich um sich etwas zu trinken zu holen, begebe ich mich auf den Weg dorthin.

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