3. Ich kenne ihn.

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Der Wecker leutet. Wie ich es hasse.

Ich bleibe noch kurz liegen und gehe in Gedanken durch, was heute vor mir liegt.
Geografie, Latein, Englisch, Mathematik, Physik und Sport.

Ich könnte schreien.

Heute ist Montag und wie jeder andere auch, hasse ich Montage.
Sie sind immer gleich, jeder ist müde, keiner aufmerksam. Alle fragen sich, warum sie das Wochenende nicht sinnvoll genutzt haben; warum sie nicht länger geschlafen haben, statt es anders zu vergeuden.

Jeder will den Tag einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Langsam stehe ich auf.
"Na dann mal los, lass es uns hinter uns bringen", murmel ich und gehe ins Bad.

Heute scheint die Sonne wieder.
Während der ganzen Busfahrt blendet sie mich, aber ich kann mich nicht woanders hinsetzten oder mich auch nur bewegen, da der Bus zum Platzen voll ist.

Ich hasse es, nicht mit meinem Auto in die Schule fahren zu können, aber da gibt es eben dieses kleine Problem: Ich habe kein Auto.

Früher war das auch okay, denn da konnte mich jeden Morgen mein Dad zur Schule fahren. Doch jetzt, wo er weg ist und meine Mom dafür keine Zeit hat, muss ich den Bus nehmen.

Meine Mom ist Lehrerin, Grundschullehrerin. Sie muss jeden Tag noch früher als ich aufstehen und zu der Schule am anderen Ende der Stadt fahren. Erst am Nachmittag kommt sie wieder und ist dann von den kleinen Kindern so erschöpft, dass sie sich hinlegen muss.

Meine Mom ist nicht glücklich, ich weiß das, obwohl sie versucht es vor mir zu verbergen.

Sie will mich nicht mit etwas belasten, immerhin gibt es jetzt nur noch uns beide und ich bin überzeugt davon, dass sie alles dafür tun würde, mich glücklich zu machen.
Und ich würde das auch für sie tun.

Der Bus bleibt stehen. Endlich.
Ich kämpfe mir einen Weg durch die verschwitzte Menge und stehe nun am Busparkplatz, nicht weit vom Schuleingang entfernt.

Ich fand schon immer, dass meine Schule ziemlich cool aussieht. Wenn Schulen das überhaupt können.
Sie ist groß, um nicht zu sagen riesig.
Eines der Hauptgebäude erstreckt sich vor mir und wirft endlich einen angenehmen Schatten auf mich.

Ich atme noch einmal ruhig durch, streiche mir eine meiner langen roten Strähnen hinters Ohr und gehe mit schnellen Schritten auf den Eigang zu.
Obwohl ich jetzt schon seit 2 Jahren hier zur Schule gehe, ist es jeden Tag eine neue Herausforderung durch die Tür und direkt in die Hölle zu gehen.

Es liegt nicht daran, dass ich keine gute Schülerin bin, denn das bin ich. Ich bin stets die Klassenbeste und meine Noten sind fast immer dasselbe: Einser.

Und das Beste ist, dass ich mich dafür nicht anstrengen muss, überhaupt nicht. Naja, außer in Mathematik. Dieses Fach ist mein persönlicher Albtraum.

Ich bin darin nicht gut und das Problem ist, dass ich es auch nicht lernen kann. Ich kann es einfach nicht. Letztes Jahr habe ich gerade noch eine halbwegs gute Note bekommen, keine Ahnung, wie ich das geschafft habe.
Doch dieses Jahr werde ich das nicht mehr hinbekommen.

Andere haben Angst vor Spinnen oder vor Gewittern, ich dagegen fürchte mich vor Mathematik.

Aber der wahre Grund, aus dem ich die Schule nicht mag, sind die Menschen darin.
Sie sind anders als ich. Sie sind alle miteinander befreundet und beliebt.

Ich bin nicht beliebt. Ich meine, ich bin auch nicht unbeliebt, die Leute achten sehr wohl auf mich. Mit meinen langen roten Haaren und den blauen Augen, falle ich durchaus auf. Es ist nur so, dass mich das nicht interessiert. Ich will nicht auffallen und dafür sorge ich auch.

Drinnen erwartet mich das laute Treiben der Schüler. Spinde werden zugeschlagen, die High Heels der Mädchen klappern bei jedem Schritt auf dem Flur, begleitet von dem nervigen Gekicher.

Ich dagegen bewege mich leise mit meinen weißen beschrifteten Turnschuhen auf meinen Spind zu.
Dort nehme ich meine Bücher heraus und mache mich auf den Weg zu meiner ersten Stunde.

Überall unterhalten sich Leute über ihr Wochenende, andere reden auch gar nicht, da sie zu sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig das Gesicht abzuschlecken. Widerlich.

Es gab eine Zeit, da war ich auch so. So dumm.
Damals war ich mit Will zusammen. Ich war echt glücklich mit ihm.
Man muss wissen, dass Will unbeschreiblich gut aussieht mit seinen hellbraunen Haaren und den grünen Augen. Außerdem sprüht er nur so vor Charme und er kann küssen, sehr gut sogar.

Er ist ein Typ, der jedes Mädchen haben kann. Doch damals wollter er mich.
Wir waren zwei Monate zusammen, bevor er mich mit einem anderen Mädchen betrogen hat.
Ich war nicht wirklich in ihn verliebt und habe ihm auch nicht mein Herz geschenkt, das gehört schon lange jemand anderem.

Dennoch tat es weh, als ich ihn dabei erwischte, wie er gerade den Hals dieser Schlampe küsste.
Aber ich war nicht wirklich traurig, eher wütend. Deshalb habe ich mich mit Hilfe meiner besten Freundin Violet an Will gerächt.

Gemeinsam haben wir mit spitzen Gegenständen sein nagelneues Auto zerkratzt. Ein unglaublich gutes Gefühl.

Das Betrachten der Pärchen, die an den Spinden knutschen, ruft jedoch noch immer schöne Erinnerungen hervor.
Will und ich an den Spind gelehnt. Seine Lippen begierig auf meinen. Meine Gedanke bei niemand anderem, außer ihm.

Verdammt. Wegen dieser dämlichen Erinnerung wäre ich gerade fast gegen die Wand meines Klassenzimmers gerannt.
Ich kann nur hoffen, dass es niemand gesehen hat.

Die ersten zwei Stunden vergehen ereignislos.
Als nächstes habe ich Englisch. Schon der Gedanke daran, lässt mein Herz schneller schlagen. Er wird da sein.

Eigentlich sollte es mir egal sein, so wie es ihm auch egal ist. Aber das ist es nicht.
Mit klopfendem Herzen gehe in das Klassenzimmer. Es ist noch fast keiner da.
Ich setzte mich an meinen üblichen Platz ans Fenster und warte.

Einige Schüler kommen herein und setzten sich. Die Minuten vergehen.
Ich bin verdammt nervös und ich hasse mich selbst dafür.

Gestern habe ich ihn zum ersten Mal seit Wochen getroffen. Eigentlich habe ich ihn ja nicht einmal getroffen, sondern nur durch das Fenster beobachtet. Gott, wie erbärmlich.

Meine Finger tippen auf den Tisch. Die Uhr tickt.
Und dann, eine Minute vor dem Beginn der Stunde, kommt er.
Er sieht aus wie immer, seine braunen Haare sind verwuschelt, auf seinen Lippen liegt ein leichtes Lächeln. Er trägt dunkle Jeans und ein kurzärmliges weißes T-Shirt, unter dem man seine Armmuskeln erkennen kann.

Sein Blick gleitet durch den Raum und ganz ganz kurz bleibt er an mir hängen. Mein Herz hämmert in meiner Brust.

Dann schaut er weg und bahnt sich einen Weg durch die Menge. Einige Leute begrüßt er mit einem Nicken, mich nicht.

Sein Platz ist eine Reihe hinter mir. Wenn ich mich leicht drehe, kann ich ihn beobachten.
Er legt ein dickes Buch auf den Tisch und setzt sich auf den Sessel.
Mehr als das Buch hat er nicht dabei. Ich muss leicht lächeln. So war er schon immer.

Er war der erste Mensch, den ich kennenlernte, der meine große Liebe zu Büchern teilte.
Jemand, der ihn nicht besser kennt, sieht nur den sexy Jungen vor sich. Den Jungen, mit dem hinreissenden Lächeln und dem perfekten Körper. Den Jungen, der jeden Tag mit einem anderen Mädchen rummacht.

Alle sehen ihn ihm nur den Playboy, der Fußball spielt, der beliebteste Schüler unseres Jahrgangs ist und der mit jedem Mädchen flirtet, sich aber auf keine richtig einlässt.

Aber ich kenne ihn.
Ich kenne ihn wirklich.
Ich kenne seine Geheimnisse.
Ich kenne den Schmerz, den er erlitten hat.
Ich kenne die Witze, über die er lacht.
Ich kenne das Leuchten in seinen Augen, wenn er seinen Bruder sieht.
Ich kenne den Klang seiner Schritte im Flur vor meinem Zimmer.
Ich kenne das Klopfen seiner Fingerknöchel an meinem Fenster.
Ich kenne den Duft seiner Haare.
Ich kenne die Berührung seiner Fingerspitzen auf meinem Gesicht.
Ich kenne den Druck seines Armes auf meiner Hüfte, wenn er neben mir liegt.
Ich kenne den Geschmack seiner Lippen auf meinen.

Und dennoch weiß ich nicht, ob er überhaupt noch meinen Namen kennt.

Alone TogetherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt