+ Kapitel 2: Soll ich bei dir bleiben? +

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Selten hatte ich so schlecht einschlafen können. Marie neben mir schlief ebenfalls nur unruhig, drehte sich von der einen Seite auf die andere und so sehr ich auch versuchte, sie zu beruhigen, es funktionierte nicht. Und daher lag ich nun wach neben ihr im Bett, beobachte ihre angestrengten Gesichtszüge und meine Gedanken schienen mich zu erdrücken. Alles, was ich eigentlich verdrängen wollte, prasselte auf mich ein und ließ mich nicht schlafen.
Schwanger...
Stimmungsschwankungen, Morgenübelkeit und eine weinende Marie, die total fertig mit ihren Nerven war.
Wir müssten schauen, wie sie das mit ihrem Studium machte. Wie viele Vorlesungen sie besuchen würde und so weiter und so fort. Ich hatte es einfacher, ich war Gott sei Dank fertig und hatte alle Freiheiten, genau dann zu arbeiten, wann ich wollte. YouTube lief dafür zu gut, als ob ich mir darüber oder das Geld Gedanken machen musste...
Termine beim Frauenarzt, Geburtsvorbereitungskurse und eine Marie, die wahrscheinlich mit Tränen in den Augen zusammenbrechen würde, wenn sie nicht mehr in ihre Lieblingshose passen würde.
Wir müssten schauen, wie wir das all den andere beibringen würden. Meine Eltern würden sich unfassbar freuen, wenn sie den ersten Schock verdaut hätten. Sie liebten Marie und sie liebten Enkelkinder, von daher war das nicht das Problem. Sie würden immer für uns da sein und alles tun, was in ihrer Macht stand. Bei Marie war das ähnlich, aber doch irgendwie anders. Ihre Eltern liebten sie und mochten mich auch, dass wusste ich, aber sie hatten andere Pläne für ihre Tochter gehabt. Vor allem, da sie noch studierte und das Studium unter der Schwangerschaft leiden würde, aber...
Es war immerhin ein kleines, menschliches Wesen, das da gerade in Maries Bauch heranwuchs und genau so viel von Marie wie von mir abbekommen würde. Ein verrückter kleiner Mensch, denn bei solchen Eltern konnte das kleine Etwas auch nur verrückt werden. Alleine der Gedanke daran... Ich liebte es jetzt schon abgöttisch. Und dabei wusste ich erst wenige Stunden davon...
Wir brauchten ein Kinderzimmer. Wir brauchten irgendwann einen Kita-Platz, irgendwann würde es zur Schule gehen und irgendwann würde da ein erwachsener, junger Mensch vor uns stehen, auf den wir so unfassbar stolz sein würden.
Es gäbe keine überstürzten nächtlichen Aufnahmesessions mehr. Keine spontanen Trips mit den Jungs und alle Termine müssten genauestens geplant werden. Aber das war genau richtig so, denn freiwillig würde ich die beiden sicher nicht alleine lassen und...
Es würde unfassbar kompliziert werden, alles. Das wusste ich, aber dennoch war das Lächeln, das ich eben schon auf den Lippen hatte, geblieben. Es war...
„Genug damit", murmelte ich mir selbst zu und setzte mich auf. So schön das alles auch klang und so merkwürdig das alles auch war, ich würde mich, wenn ich jetzt weiter darüber nachdachte, in etwas verrennen. Ich würde die ganze Nacht wachliegen und mir die größten Gedanken über alles machen und mein Kopf würde nicht still stehen. Denn im Moment war ich viel zu verwirrt und glücklich gleichzeitig, als dass ich wie Marie einfach einschlafen könnte.
Seufzend blickte ich auf meine Freundin herab. Ich musste mich eindeutig ablenken. Und so verließ ich leise das Schlafzimmer. Wenn ich eh nicht schlafen konnte, dann könnte ich auch noch ein Video schneiden und versuchen, ein wenig zur Ruhe zu kommen...


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„Grhm... Grhm, woufweachen. Gwim... Hey, Tim, aufwachen", drang eine Stimme immer weiter in mein Unterbewusstsein und ich schlug verwirrt die Augen auf.
Scheiße, wo war ich hier? Und warum tat mein Rücken so weh?
„Tim, hey", identifizierte ich die Stimme als Maries und drehte meinen Kopf zu ihr, versuchte es jedenfalls, doch mein Nacken fand das nicht so witzig. War ich mal wieder vorm PC eingeschlafen und hatte in einer verdammt unbequemen Pose die Nacht verbracht? Wahrscheinlich...
„Marie?", fragte ich so nur und erstarrte. „Oh Gott. Alles Gute!", fiel es mir dann ein und sah sie mit großen Augen an.
„Wie, was meinst du damit, Alles Gute?", wollte sie wissen und ich griff nach dem Umschlag, der auf dem Schreibtisch lag.
„Zum Jahrestag?!", meinte ich wie selbstverständlich und sah sie fragend an. Das konnte sie doch nicht vergessen haben?!
„Oh", sah mich Marie ein wenig verwirrt an. „Meinst du nicht, dass...", wollte sie beginnen, ich schüttelte nur den Kopf. Diese Überraschung würde sie mir nicht kaputt machen.
„Shh", meinte ich daher und reichte ihr meinen Umschlag, den sie irritiert ansah und dann zu mir aufblickte.
„Was soll ich damit?", kam es ihr über die Lippen und ich starrte verwirrt zurück. „Wir können doch jetzt nicht einfach so weiter machen?!"
Ich war komplett überfordert von ihrer Reaktion. Was meinte sie damit?
„Marie, ich weiß, dass ich die letzten Tage oft gestresst war und es tut mir leid, aber ich dachte...", begann ich, erstarrte dann aber, als mir bewusst wurde, worum es hier gerade ging und was ich da gerade eigentlich tat... All die Sachen, die ich die ganzen letzten Minuten anscheinend verdrängt hatte, prasselten wieder auf mich ein. All die Szenen von gestern kamen wieder hoch und ich realisierte, was los war.
„Fuck", kam es mir über die Lippen und mein Blick fuhr zu ihrem Bauch. Wie konnte ich denn bitte sowas vergessen?
„Das ist das einzige, was dir dazu einfällt?!", murmelte Marie und ließ den Umschlag sinken.
„Mein Gott, das ist...", erwiderte ich leise, bis Marie mich unterbrach, und fuhr mir dann seufzend übers Gesicht.
„MEIN GOTT?! Es geht hier um das da und du benimmst dich so, als ob das...", sagte sie laut und ich sah sie perplex an.
„Was, Marie? Was?! Nenn es nicht abwertend 'das da'. Du kannst das Kind nicht wegdiskutieren, es ist da. Punkt! Und...", wollte ich erwidern und Marie sah geschockt zu mir.
„Sag das nicht, ich will das nicht hören!", keifte sie sofort.
„Was, ich...", begann ich und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Die Situation überforderte mich komplett, ich kam mit Maries Reaktion nicht klar. „Was ist denn los?"
„WAS DENN LOS IST?", kreischte Marie nur und ich zuckte zusammen. „ICH BIN SCHWANGER! Mein verdammtes scheiß Leben ist vorbei!"
Ich schluckte, schaute Marie an, wollte etwas sagen.
„Marie...", begann ich, doch sie ließ mich nicht.
„Ich hab Angst, verdammt nochmal. Ich will das alles nicht. Ich will nicht schwanger sein. Ich will dieses Kind nicht. Ich will doch nur, dass das alles niemals passiert wäre. Also sag mir jetzt nicht, dass alles gut wird und ich mich nicht so aufregen soll. Ich bin 22, verdammte scheiße!", Marie weinte wieder, während sie diese Worte sagte, und ich wollte wirklich irgendetwas erwidern, aber keine Chance. „Verdammt, meine Eltern werden mich umbringen. Meine Freunde werden mich für die größte Idiotin halten und ich bin verdammt nochmal zu jung dafür! Ich will das alles nicht! Am besten wäre es, wenn..."
„Du kannst doch nicht sagen, dass...", begann ich perplex und sie unterbrach mich wütend.
„Ich kann sagen, was ich will, verdammt noch mal. Du bist so ein verdammtes Arschloch, Tim, lass mich einfach in Ruhe!", fauchte sie mich an und war im nächsten Moment aus der Tür, die sie laut hinter sich zuknallte. Ich stand wie erstarrt da.
Seufzend ließ ich mich dann auf meinen Schreibtischstuhl fallen und fuhr mir wieder nur übers Gesicht. Wir stritten nicht oft, kabbelten und ärgerten uns nur häufiger, aber so richtiger Streit war selten. Und in letzter Zeit doch zu häufig...
Eine weitere Tür fiel lauthals ins Schloss und ich seufzte. Manchmal konnte Marie echt melodramatisch werden, aber so einen Abgang hatte sie auch noch nicht hingelegt, wo sie wirklich abgehauen...
Ich riss meine Augen auf und war im nächsten Moment aufgesprungen. Mein Schreibtischstuhl wackelte gefährlich, während ich aus dem Zimmer stolperte und zur Tür schlitterte.
„Was für ein Idiot bist du eigentlich!", keifte ich mich selbst an, während ich mit einer Hand nach dem Haustürschlüssel griff und dann ebenfalls nach draußen gestürmt war. Ich hatte immer noch meine Schlafklamotten an und meine Füße waren barfuß, doch das war mir egal. Alles war egal, solange ich Marie nur einholte. Sie würde doch nicht einfach so abhauen...
„MARIE!", schrie ich ihr hinterher und drängelte an den Menschen auf dem Bürgersteig vorbei, deren Blicke ich komplett ignorierte. Ich wurde immer schneller. „Marie! Warte!", rief ich ihr weiter hinterher, legte ihr schließlich eine Hand auf die Schulter, als ich sie erreichte, und drehte sie zu mir um.
„Marie", meinte ich außer Atem und zog sie im nächsten Moment in meine Arme, ließ sie nicht los, auch als sie sich wehrte und mich abschütteln wollte. „Es tut mir leid. Bitte, Marie...", flüsterte ich in ihr Haar und sie entkrampfte sich etwas, hörte auf sich zu wehren. „Ich hätte solche Sachen nicht sagen sollen, wirklich nicht. Verzeih mir. Es tut mir leid. Hau bloß nicht ab, bitte."
Maries Abwehrhaltung brach immer weiter zusammen.
„Mir auch", hörte ich sie nach einiger Zeit leise sagen und atmete auf.
„Bitte bleib hier! Lass uns wieder reingehen. Lass uns vernünftig darüber reden", meinte ich dann und löste mich von ihr. Sie nickte nur.
Vorsichtig nahm ich ihre Hand und ließ sie die nächsten Minuten auch nicht mehr los. Ich wollte es nicht riskieren, sie nochmal wegrennen zu sehen, das würden meine Nerven nicht mitmachen.
„Bitte mach das nicht nochmal", meinte ich leise, als wir schlussendlich wieder in der Wohnung waren, und sie nickte nur.
„Es tut mir leid", wiederholte sie sich und ich versuchte sie aufmunternd anzulächeln.
„Wir kriegen das alles hin, das verspreche ich dir. Ich pass auf euch auf!", kam es mir über die Lippen, doch ich erzielte mit ihnen einen anderen Effekt als ich das geplant hatte, denn Marie zuckte zusammen.
„Was hast du gerade gesagt?!", fragte sie und ich sah sie an.
„Dass ich...", wollte ich beginnen, doch sie ließ mich wieder nicht ausreden.
„Das habe ich schon verstanden. ... Es klingt so falsch, Tim. Ich kann das nicht. Ich bin viel zu jung. Das ist nicht richtig... Im Moment weiß ich einfach nicht, was ich denken soll, und sage Sachen, die ich nicht sagen sollte...", meinte sie zögernd und sah mich aus diesen großen, traurigen Augen an.
„Das ist normal, glaube ich. Aber das Kleine...", begann ich und Marie unterbrach mich sofort wieder.
„Hör auf es zu personalisieren!", meinte sie reflexartig. Sie war angespannt und lauter geworden, ich seufzte nur.
„Warum denn?", fragte ich leise und vorsichtig. Ich wollte nicht, dass sie sich wieder so aufregte.
„Ich kann das gerade nicht! Lass es mich erst mal verdrängen. Bitte! Ich kann... Ich brauch...", war alles, was sie sagen konnte. Sie war wieder den Tränen nahe. Und dabei war Marie doch sonst immer die Starke, die alles unter Kontrolle hatte und so selten weinte. Sie wusste sonst immer auf jedes Problem eine Lösung und nun standen wir hier, sie war nicht mehr dieselbe und ich wusste nicht, was ich tun sollte...
„Okay", meinte ich schlussendlich und sah sie an. „Willst du dich erst mal ein wenig hinlegen?", fragte ich sie dann und sie nickte vorsichtig. Im nächsten Moment hatte ich sie auf meine Arme genommen und war auf dem Weg ins Schlafzimmer, wo ich sie behutsam aufs Bett legte und mir die Decke nahm, um sie über sie zu legen. Sofort hatte sich Marie zusammengerollt.
„Soll ich bei dir bleiben?", fragte ich und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Dann schneide ich ein paar Videos", erwiderte ich. „Wenn irgendwas ist, bin ich nur nebenan. Wir können später noch über alles reden, ruh dich erst mal aus, Kleine."
Und so verließ ich leise das Schlafzimmer, saß dann an meinem PC und versuchte mich abzulenken. Dominik machte sich zwischenzeitlich Sorgen, da ich nicht auf ihn reagierte, obwohl ich ihm versprochen hatte, ihn auf dem Laufenden zu halten, was Paris anging. Ich schottete mich aber komplett ab, versuchte mich abzulenken, doch es klappte nicht. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich rüber zum Schlafzimmer ging und nachschaute, ob es Marie gut ging und ob sie wach geworden war. War sie nie, also ging ich immer wieder niedergeschlagen zurück und versuchte weiter zu schneiden und den Rest der Welt zu ignorieren, Dominik eingeschlossen, bis ich irgendwann selbst einzuschlafen schien...


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„Grhm... Grhm, woufweachen. Gwim... Hey, Tim, aufwachen", drang eine Stimme immer weiter in mein Unterbewusstsein und ich schlug verwirrt die Augen auf.
Nicht schon wieder...
„Marie?", murmelte ich heiser und richtete mich auf. Mein Rücken war nun komplett hinüber und mein Kopf tat weh...
„Du musst was trinken. Und was essen", meinte sie leise und ich setzte mich richtig hin. Neben mir stand tatsächlich sowohl etwas zu essen – auch wenn es nur Pizza war – als auch etwas zu trinken.
„Ich..., danke", meinte ich ein wenig überrascht und betrachtete Marie. Sie sah besser aus, eindeutig.
„Es tut mir leid, Tim. Und du bist kein Arschloch, du bist alles andere als das", erwiderte sie simpel und ich lächelte sie an, streckte meine Hand nach ihr aus, die sie zögernd annahm. Behutsam zog ich sie zu mir und sie nahm auf meinem Schoß Platz. Ihren Kopf legte sie an meine Schulter, ihre Arme schlangen sich um meinen Hals. Sie stieß mich nicht von sich und ich war unfassbar erleichtert.
„Hast du schon etwas gegessen?", fragte ich sie und sie schüttelte kurz ihren Kopf. „Dann komm, iss auch etwas", erwiderte ich und hielt ihr ein Stück der Pizza hin. Sie zögerte, nahm es dann aber an.
Und so saßen wir da, schwiegen und aßen still vor uns hin, bis wir irgendwann den Teller wegstellten. Meine nun freien Hände fuhren ihren Rücken auf und ab und sie saß einfach nur da.
„Wäre es eine schlechte Idee, das von heute Morgen nochmal zu versuchen?", fragte ich nach einiger Zeit zögernd und zeigte auf den Umschlag, der wieder auf dem Schreibtisch lag.
„Ich glaube nicht", erwiderte sie und streckte ihre Hand aus, um ihn sich zu nehmen und zu öffnen. Schnell bewegten sich ihre Augen hin und her und flogen übers Papier, bevor sie es langsam sinken ließ.
„Paris", murmelte sie leise und richtete sich auf, sah zu mir nach oben.
„Ich hab dir damals versprochen, dass ich dich irgendwann nach Paris entführe. Und ich wollte mein Versprechen halten", erwiderte ich zögernd und sie nickte nur.
„Meinst du nicht, dass der Zeitpunkt...", begann sie und ich unterbrach sie sofort.
„Dass was? Dass der Zeitpunkt schlecht ist? Der Zeitpunkt wäre nicht besser, Marie. Du brauchst Ablenkung, dir fällt hier doch sowieso die Decke auf den Kopf und es wäre doch eigentlich perfekt, den ganzen Tag etwas zu tun zu haben. Ich hab das Ganze die letzten Tage und Wochen geplant... Ich verspreche dir, dass Paris unvergesslich wird. Bitte Marie, das wird grandios, trotz allem...", begann ich und sah dann, wie sich ihre Augen zu Schlitzen zusammenzogen, sodass ich meinen Satz anders enden ließ als ich das wollte. „Was wir die nächste Tage einfach verdrängen werden. Ich red schon nicht weiter. Die Pizza war lecker, oder? Du bist echt eine Meisterköchin", versuchte ich irgendwie dir Kurve zu kriegen und ... Marie lächelte?
„Du bist so ein Idiot. Und ... Danke. Das mit Paris ist eine wunderschöne Idee", meinte sie und auch, wenn eigentlich nicht der richtige Moment war, glücklich zu sein, war ich genau das. Und alles andere, das würde sich schon irgendwie ergeben.


Platz für Zwei (HerrBergmann)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt