+ Kapitel 1: Ist alles okay? +

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„TIM BERGSTRÖM!", hörte ich Maries aufgebrachte Stimme und zuckte unwillkürlich zusammen. Was hatte ich denn jetzt schon wieder vergessen? Jahrestag? Ne, der war in drei Tagen. Kriegten wir Besuch? Ne, eigentlich auch negativ. Vergessen aufzuräumen? Vergessen den Müll runter zu bringen? Nein, das konnte es auch nicht sein.
„Marie?", fragte ich daher kleinlaut und steckte meinen Kopf durch die Tür.
„Wir waren verabredet, Freundchen!", keifte meine Freundin entnervt und ich riss die Augen auf. Scheiße!
„Oh Gott, Marie. Das tut mir unfassbar leid, du weißt nicht, wie leid mir das tut. Ich dachte, ...", begann ich sofort auf sie einzureden, sie machte aber eine Geste, die mich zum Schweigen brachte.
„Als ob ich es nicht gewusst hätte. Ist ja jetzt auch egal", meinte sie aber nur und wandte sich ab. Sie war sauer. Sie war so richtig sauer. Sie war so sauer, dass sie nicht mehr mit mir reden wollte. Und wenn der Fall eintrat, dann war sie aber verdammt nochmal so richtig sauer.
Seufzend schaute ich ihr hinterher und mein Blick kreuzte sich mit der Küchenuhr. Es war wirklich schon 19.30 Uhr? Kein Wunder, dass Marie so ausrastete...
Tief durchatmend schloss ich die Tür meines Arbeitszimmers wieder und setzte mich zurück an meinen Schreibtisch. Ich würde Marie erst mal runter kommen lassen, das dauerte erfahrungsgemäß so eine Stunde, und dann versuchte ich zu retten, was noch zu retten war. Wenn denn heute noch etwas zu retten war...
‚Magst du mir den Kopf abreißen, Dominik?', tippte ich so meinem Kumpel eine Nachricht und blickte auf den Bildschirm. Das Video, das ich dort gerade bearbeitete, war erst zur Hälfte fertig. Und heute wollte ich eigentlich noch viel mehr geschafft haben...
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken und ich nahm sofort ab.
„Was hast du dieses Mal wieder angestellt, Bergi?", hörte ich Kedos sagen und seufzte, versuchte ihm dann die Sachlage zu schildern. Es war kompliziert.
„Du hast über deiner Vorproduktion, die du gerade noch durchziehst, vergessen, dass du mit Marie verabredet warst. Das bedeutet doch: Weil du dir Zeit für Marie freischaufeln wolltest, hast du quasi vergessen, dass du Zeit für Marie haben wolltest. Das klingt so ziemlich bescheuert, Tim", versuchte Dominik zusammenzufassen und ich lachte heiser auf.
„Ach echt? Das wusste ich auch noch nicht. Man, Dominik, warum bin ich nur so ein Idiot?", seufzte ich und fuhr mir übers Gesicht. Ich wollte nicht, dass Marie sauer auf mich war. Und das war sie in den letzten Tagen viel zu oft gewesen, weil ich einfach zu gestresst und verplant gewesen war.
„Weil du sie liebst, Tim. Und du schaffst das schon, du kennst Marie besser als jeden anderen Menschen auf dieser Erde. Du weißt schon, was du zu tun hast. Viel Glück, Kumpel", waren seine letzten Worte und dann hatte er aufgelegt, ich starrte nur verdattert den Hörer an. Das half mir ja sehr weiter...


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Seufzend betrachtete ich das geöffnete Dokument und verschränkte meine Hände ineinander. War jetzt wirklich alles geplant, was geplant werden musste?
Bald war der Jahrestag, drei Tage darauf würden wir im Zug sitzen. Die Fahrkarten waren gekauft und das Hotel, in dem wir übernachten würden, war auch gebucht. Die Wetterprognosen waren noch sehr unsicher, aber man konnte ja entsprechend spontan den Koffer packen. Ich hatte die Tage ungefähr durchgeplant. Sachen, die wir auf jeden Fall machen mussten. Wie Crêpe essen. Oder zum Eiffelturm. Die Sachen, die man halt machte, wenn man in einer fremden Stadt war.
Eigentlich war alles fertig und doch hatte ich ein komisches Gefühl dabei. Würde sich Marie freuen? Würde sie überhaupt mitkommen wollen? Sie hatte sich mittlerweile zwar wieder beruhigt und es war zwar ein langes Wochenende, dennoch... Wir würden Donnerstagnachmittag losfahren und Sonntagmittag wieder zurückkehren und hatten dementsprechend nur zweieinhalb Tage, aber diese Zeit mussten wir doch nutzen, oder?
Kopfschüttelnd schloss ich das Dokument.
‚Warum bin ich jetzt schon so verdammt nervös, Dominik?', tippten meine Hände wie automatisch und im nächsten Moment hatte ich die Nachricht abgeschickt.
‚Du willst deiner Schnecke einen Heiratsantrag machen, Alter. Wer wäre da nicht nervös?', bekam ich einige Sekunden später zurück und musste schmunzelnd den Kopf schütteln. Wenn ich Dominik nicht kennen würde, dann hätte ich ihm die ‚Schnecke' übel genommen. Aber so überging ich das einfach und legte das Handy beiseite. Ich sollte mich vielleicht ein wenig ablenken. Ich hatte noch viel zu tun, also sollte ich meine Zeit nutzen.


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Lächelnd saß ich vor dem PC und betrachtete das Thumbnail, das ich gerade erstellt hatte. Es war mal wieder so selten dämlich, dass die Zuschauer sicher ihre Freude daran haben würden.
„TIM?", hörte ich Maries Stimme im Hausflur und im nächsten Moment war ich aufgestanden und griff im Gehen noch schnell nach meiner Wasserflasche. Ich vergaß öfter mal das Trinken, wenn ich mich zu lange auf etwas konzentrierte.
„Marie? Ist alles okay?", wollte ich von meiner Freundin wissen, die ein wenig verwirrt hin und her blickte und sich nur mühsam aus ihrer Kleidung schälen konnte. Und sie antwortete nicht, musste sich wohl erst mal sortieren, sodass ich einen kurzen Schluck aus meiner Flasche nahm.
„Ich bin schwanger", fing sie dann aber doch an zu reden und als ihre Worte bei mir ankamen, verschluckte ich mich fürchterlich und fing unfassbar an zu husten.
„Bitte was?", bekam ich irgendwie noch heraus und sah Marie an, die einfach nur da stand und nichts mit sich anzufangen wusste.
„Ich bin schwanger", wiederholte sie die Worte von eben nochmal und die ersten Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
Schwanger?!


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Seufzend schaute ich hinab auf Maries zitternden Körper. Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, sie in ihrem komplett desolaten Zustand irgendwie aufs Sofa zu verfrachten, aber ich hatte es geschafft und nun saßen wir hier seit einer halben Stunde und Marie hörte nicht auf zu schluchzen, während mein Kopf einfach nur komplett leer war. Keinen einzigen sinnvollen Gedanken konnte ich bilden, ich saß einfach nur da, mit Marie in meinen Armen, und strich ihr in monotonen Bewegungen über ihr Haar. Und sie beruhigte sich nicht, sie beruhigte sich einfach nicht...
„Du bist ... schwanger", meinte ich nach weiteren Minuten dann aber irgendwann und allein der Gedanke war so komplett surreal. Sie konnte nicht schwanger sein. Das war absolut unmöglich.
„Ja", kam es Marie schluchzend über die Lippen, während ich sie noch ein wenig näher an mich zog.
„Aber... wie?", fragte ich und Maries Schluchzen wurde nur noch lauter.
„Ist ... die Frage ... ernst gemeint?", versuchte sie hervor zu bringen und ich seufzte.
„Nein, so meinte ich das nicht", erwiderte ich und starrte weiterhin geradeaus.
„Du erinnerst dich doch daran, dass ... ich die Pille gewechselt habe...?", bekam Marie dann irgendwann einen ganzen Satz zustande und ich sah zu ihr herunter.
„Natürlich. Aber wir haben verhütet, Marie!", kam es mir über die Lippen und während ich geredet hatte, war ich ein wenig lauter geworden, ohne es beabsichtigt zu haben. Marie zuckte sofort zusammen. „Ich... es tut mir leid", setzte ich leise hinzu und hauchte ihr einen sanften Kuss aufs Haar.
„Ich weiß ... nicht wieso. Kondome sind auch nicht zu 100% sicher. Und die Pille ist auch nicht zu 100% sicher", versuchte sie eine Erklärung für etwas zu finden, wofür es keine Erklärung gab. Marie zitterte und ich hatte sie selten so fertig mit den Nerven erlebt. „Ich bin doch viel zu jung!"
Und dann legte sich die Stille wieder über uns, manchmal weinte Marie mehr und manchmal weniger, und ich saß einfach nur da und starrte geradeaus.
Schwanger.
Schwanger im Sinne von: Irgendein Lebewesen schien da in Maries Bauch heranzuwachsen.
Schwanger im Sinne von: Unser Kind schien da in Maries Bauch heranzuwachsen.
Schwanger im Sinne von: Wir würden verdammt nochmal Eltern werden.
Wieder seufzte ich.
Schwanger...
So hatte ich mir das alles irgendwie nicht vorgestellt. Nicht zu diesem Zeitpunkt, generell noch nicht. Ich meine, klar, irgendwann, aber alles schön der Reihe nach. Erst die Hochzeit, dann ein hübsches kleines Häuschen. Und wenn Marie fertig mit studieren war, dann wäre das alles noch ne Option gewesen. Doch fertig war Marie noch nicht, sie war noch mitten drin im Studium, gerade erst 22 Jahre jung, mit Plänen, mit Zielen. Und bald schwanger mit einem Babybauch...
Und ich war erst 25. Auch kein richtiges Alter für ein Kind, für eine Familie, für alles...
Tief durchatmend fuhr ich mir mit meiner freien Hand übers Gesicht, bevor ich wieder zu Marie blickte. Sie weinte nicht mehr und die Erschöpfung schien die Oberhand gewonnen zu haben, da sie sich nun unruhig im Schlaf hin und her bewegte.
Vorsichtig hob ich sie hoch, darauf bedacht, sie nicht wieder aufzuwecken.
Und als sie schlussendlich im Bett lag und ich Marie betrachten konnte, fühlte sich das alles nur noch halb so surreal an, wie es sich vor ein paar Minuten angefühlt hatte.
Marie war schwanger. Eine Tatsache, die mir mehr Angst einjagen sollte, doch das tat sie nicht.
Und irgendwie musste ich lächeln.

Platz für Zwei (HerrBergmann)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt