Ginger

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Dylan:

Ich kann nicht anders als so unauffällig wie möglich zu ihr herüber zu schielen, während Kurt Cobains Gesang den Rest der Welt übertönt. Ursprünglich bin ich nur hierher gekommen, um diesem lästigen Arzt zu entwischen, der mich dazu nötigen wollte, voll gepinkelte Bettlaken zu entsorgen oder den Aufenthaltsraum zu fegen. Stattdessen habe ich nun irgendeine Suizidgefährdete neben mir stehen, die vermutlich in wenigen Minuten auf dem Asphalt unter mir aufschlagen wird. Sie wird springen, genau wie viele andere vor ihr und ich werde sie nicht davon abhalten. Jedenfalls habe ich das bei Mum auch nicht geschafft.

Neben mir macht Grace einen weiteren Schritt nach vorne, sodass ihre Schuhspitzen bereits über die Kante ragen. Ihr Gesichtsausdruck ist geradezu entschlossen und dennoch scheint sie sich nicht entscheiden zu können, auf welche Art sie den Boden erreichen will.

Ich merke, wie nun auch sie zu mir herüber schielt, als würde sie auf meine Reaktion warten. Vielleicht will sie, dass ich sie daran hindere zu springen, wie es jeder andere auch täte.

Sie scheint keinen ruhmreichen oder Aufsicht erregenden Abschied zu wollen. - Zumindest bis jetzt nicht. Alles was sie zu wollen scheint, ist ihr Leben nach Möglichkeit ohne irgendeinen Zuschauer zu beenden, aber ich bin nicht dazu bereit meinen Platz zu räumen. Mein Desinteresse muss ausreichen, um sie zum Springen zu bewegen, doch gleichzeitig lässt es sie zögern.

„Kannst du nicht einfach verschwinden?", bringt Grace schließlich hervor, ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen. „Wenn du in zwei Minuten wiederkommst bin ich verschwunden und du kannst hier weiter die Aussicht genießen."

Sie sagt es, als würde sie nur für einen Moment aufs Klo verschwinden, doch der versteckte Spott in ihren Worten verrät sie.

„Welche Aussicht?", erwidere ich beinahe ebenso sarkastisch wie sie. „Etwa die Aussicht auf deine Leiche am Straßenrand?"
Ich verabschiede mich von Nirvana, indem ich demonstrativ meine Kopfhörer abnehme und mich wieder Grace zuwende.

„Nenn' es wie du willst", entgegnet sie trocken. „Hauptsache du verschwindest."

Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte. Vermutlich hätte Mum mir dasselbe gesagt, wenn ich damals dagewesen wäre, um sie aufzuhalten.

„Vergiss es, Ginger", ist alles was ich darauf antworten kann. „Bevor man mich wieder dazu nötigt Handtücher zusammenzulegen und alten Omas den Hintern abzuwischen, ertrage ich lieber deine Anwesenheit."

Ich bluffe, so wie sie auch. Dennoch kann ich es nicht verhindern laut loszulachen, als sie mir den Mittelfinger zeigt. Es ist beinahe grotesk, dass ihre Eltern sie Grace genannt haben, was gleichzusetzen ist mit dem Wort anmutig, denn anmutig ist sie in diesem Moment keineswegs.

Ihre roten Haare sind zerzaust, ihre Jackenärmel abgewetzt und ihre Chucks ausgetreten. Neben ihrer großen Klappe, ist ihr Hang zum Sarkasmus, der in jedem ihrer Worte mitschwingt, geradezu beeindruckend und an Durchsetzungsvermögen scheint es ihr ebenfalls nicht zu mangeln.

„Hast du mich gerade etwa Ginger genannt?" Es ist Graces Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt und mich in die Realität zurückbringt. Eine Realität in der mich Ginger, aka Grace, anmacht, obwohl sie sich doch eigentlich umbringen wollte.

„Du bist rothaarig."

Wow, wirklich ein sehr stichhaltiges Argument, Dylan.

Ich sehe erneut zu Grace herüber, die inzwischen einen Schritt in meine Richtung gemacht hat und aussieht, als würde sie mir am liebsten eine verpassen. Nicht, dass ich es ihr verübeln würde, aber Prügeleien auf dem Dach habe ich noch nie für sinnvoll gehalten. Vor allem, wenn es sich bei meinem Gegner um eine suizidgefährdete Rothaarige handelt.

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt