Hör zu

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Grace:

Gefühllos. Das bin ich. - Zumindest habe ich mir das bis zu diesem Moment eingebildet. Cora ist tot und es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass lediglich ihre Leiche in dieser Welt geblieben ist.

Mein Blick wandert ein letztes Mal zu ihrem leblosen Körper, ehe die Ärzte ihn weiter den Gang hinunter schieben. Sie wirken dabei beinahe geschäftsmäßig und ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie bekommen den Tod jeden Tag aufs Neue zu Gesicht, weshalb sie es vermutlich auch nicht gestört hätte eine weitere Leiche aufzufinden. - Mein Leiche. Zerschmettert auf den Pflastersteinen vor dem Krankenhaus, weil ich geglaubt habe Cora das perfekte Leben geschaffen zu haben in dem jemand wie ich nahezu überflüssig ist.

Das herausragende Ende der Familie Haddock. Die Mutter eine verschollene Alkoholikerin, die Tochter von einem Auto zerquetscht und ihre ältere Schwester auf dem Asphalt aufgeschlagen. Ergebnis: Alle sind so gut wie tot und bilden damit die klassische Problemfamilie.

Ich sehe zu Dylan herüber und zwinge mich so dazu seinen Blick zu erwidern. Er starrt mich sowieso schon seit einer gefühlten Ewigkeit an, was mir allerdings keineswegs passt. In meinem Mund bildet sich ein bitterer Nebengeschmack, als ich realisiere, dass er Recht gehabt hat. Cora ist einer der Gründe gewesen weshalb ich nicht gesprungen bin.

„Ginger - " Ich ignoriere ihn und ohne dass ich es will, setzen sich meine Beine wieder in Bewegung. Genau dasselbe hat Cora immer getan, wenn Steph sich erneut die Kante gegeben hat. Sie ist einfach verschwunden, bis ich sie teilweise Stunden später in einem der Schränke gefunden habe, das Gesicht zu einer scheinbar neutralen Miene verzogen und die Hände auf die Ohren gepresst, um Stephs Wutanfälle nicht zu hören.

Es ist immer wieder Cora, immer wieder sie. Ich spüre wie Dylan versucht mich zurückzuhalten, ehe seine Hand an meinem Arm entlanggleitet und er so gezwungen ist loszulassen.

„Grace!" Die verschiedenen Stimmen um mich herum verschwimmen zu einem einzigen grauenvollen Geräusch, während die kotzgrünen Wände auf mich zuzukommen scheinen. Ich fasse es nicht, dass sich Dylan ausgerechnet in diesem Moment die Mühe macht meinen richtigen Namen auszusprechen. Der Job als Krankenschwester war echt das Beste, was sie sich für ihn als Sozialstunden ausdenken konnten.

„Geh zu deinen Rentnern zurück und wechsle denen den Katheder!", erwidere ich gepresst und steuere endgültig auf den Ausgang zu.

Ich muss hier heraus. Heraus an die Luft, wo ich nicht direkt auf Coras Leiche starre und mir in Ruhe überlegen kann, wie ich die unausgesprochene Schuld, die zwischen uns steht wieder gut mache.
Hastig stolpere ich durch den Flur, lasse die Pathologie hinter mir, bevor ich endgültig die Tür aufreiße. Ich spüre, dass Dylan mir folgt, zwinge mich allerdings dazu ihn zu ignorieren. Mein Blick wandert beinahe hektisch umher, während ich realisiere, wo genau ich mich eigentlich befinde.

Frische Luft strömt mir geradezu schwallartig entgegen, doch von Tageslicht ist weit und breit keine Spur. Um mich herum stehen überall Autos, Motorräder und sogar Fahrräder. Weiter hinten höre ich eine Frau fluchend in ihr Auto einsteigen und davon fahren.

Ich zittere.

Verdammt, warum musste ich mich ausgerechnet in diesem Moment in der Tiefgarage wiederfinden? Weshalb habe ich dieses Dach jemals verlassen? Weshalb bin ich nicht einfach diejenige gewesen, die gestorben ist?

Meine Gedanken kreisen beinahe schmerzhaft um ein und denselben Punkt. - Ich hätte eher springen sollen. Denn wenn die Straße aufgrund meines mehr oder weniger spektakulären Todes abgesperrt gewesen wäre, wäre dieser Autounfall niemals passiert.

Ich schließe meine Augen, nur um sie wenige Sekunden später wieder zu öffnen.

Niemals.

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt