Festgehaltene Erinnerungen

3.6K 241 6
                                    

Grace:

Möglichst leise schleiche ich mich durch den Vorgarten des Hauses in dem Cora bis vor wenigen Stunden zuhause gewesen ist. Vorsichtig klettere ich über den Gartenzaun in der Hoffnung mir weder die Hose aufzureißen, noch auf sonstige Art und Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin hat das mein halbes Leben lang geklappt.

Es ist einer dieser altmodischen Jägerzäune, die man früher genutzt hat, um seinen Garten möglichst effektiv vor Füchsen und anderen Raubtieren zu schützen. In diesem Fall trennt er jedoch nur einen scheinbar aufwendig gepflegten Gemüsegarten vom Bürgersteig und bildet zudem ein geradezu perfektes Ebenbild zu dem eigentlichen Haus.

Kurzentschlossen entscheide ich mich nicht quer durch den Gemüsegarten zu trampeln, sondern stattdessen möglichst vorsichtig um ihn herum zu schleichen. Vielleicht ist es sogar besser so, falls jemand von Coras neuen Familie auf Spurensuche gehen sollte.

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, als ich das letzte Mal hier gewesen bin, um Cora abzuholen. - Und dabei bin ich weder in ihrem Garten, noch in ihrem Zimmer gewesen hoffend ihrer Familie nicht über den Weg zu laufen. Ich hätte es nicht ertragen sie so zu sehen; Als hätte es die ersten zehn Jahre niemals gegeben und als wäre ich nur jemand, der sie gelegentlich sehen will.

Ich zwinge mich dazu möglichst unbeirrt über den noch nassen Rasen zu schlendern, während ich darauf achte, dass mir niemand über den Weg läuft. Das hier ist alles Andere als die Sozialwohnungen in denen ich früher gelebt habe. Kein großer, rechteckiger Klotz mit einem gepflasterten Vorhof und einem Spielplatz gleich um die Ecke.

Noch vor wenigen Minuten hat Dylan mich in dieser beinahe idyllischen Vorstadtsiedlung herausgelassen. Die Heizung seines klapprigen Jeeps hat nur halb so gut funktioniert wie er es wahrhaben wollte und wenn er nicht gerade fluchend dagesessen hat, bin ich seinen Fragen schutzlos ausgeliefert gewesen. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit mit seinem idiotischen Frage-und-Antwort-Spiel weiter zu machen, wobei ich mich noch immer darüber ärgere, dass es ursprünglich meine Idee gewesen ist.

Ich halte an als ich auf eine dieser Hintertüren stoße, die meist zum Keller oder in die hauseigene Garage führen und mühe mich damit ab die Klinke herunter zu drücken.

Verschlossen.

Fluchend ziehe ich mir eine meiner Haarspangen aus dem Haar. Vielleicht würde es dieses Mal etwas bringen, auch wenn ich nicht sonderlich gut darin bin, Türschlösser zu knacken. Im Heim habe ich ein paar mal dabei zugesehen, wie man es machte. Nur, dass das Ziel meiner Mitbewohner meistens eher darin lag, ihre weggeschlossenen Zigaretten zurückzubekommen oder das nächstbeste Auto für eine nächtliche Spritztour zu klauen.

Ich versuche es trotzdem und im zweiten Anlauf klappt es sogar. Die Tür springt mit einem leisen Klicken auf und ich zwinge mich dazu sie zu öffnen. Das Haus ist leer und glücklicherweise erwartet mich auch kein Hund, dessen Lieblingsbeschäftigung es ist fremde Menschen pausenlos an zu kläffen oder sogar abzuschlabbern.

Beinahe automatisch taste ich mich zur nächsten Tür vor, gehe wie im Traum die Treppe hinauf, als würde ich bereits ahnen wo ich überhaupt hin will. Der Flur um mich herum ist geradezu eng, doch die hellgelben Wände lassen ihn wenigstens etwas fröhlicher erscheinen. An den einzelnen Türen kleben selbstgebastelte Namensschilder. Max, Lenny, Mum und Dad und, am Ende des Ganges, Cora.

Für mich sind die meisten dieser Menschen nur Namen, die ich vielleicht ein einziges Mal im Leben gesehen habe. Ich weiß nicht wo sie sich gerade aufhalten. Fest steht lediglich, dass sie im Gegensatz zu Cora noch am Leben sind.

Ich halte Inne, spüre die Kälte des Türgriffs unter meinen Fingern und habe gleichzeitig zum ersten Mal Angst dieses Zimmer zu betreten. Das Zimmer, dass meiner kleinen Schwester gehörte und das vermutlich das komplette Gegenteil von dem Raum ist, in dem sie früher geschlafen hat. Einen Raum mit altmodischer Tapete und einem Bett an der Wand, dass Mum einst beim Ikea ergattert hat.

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt