Mutter

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Wenn die Nacht kam, ließ Sam sie kommen. Er schuf Platz für sie in seinem Zimmer, gleich neben der einsamen Lampe. Er dachte an Valerie.

Er schrieb sie auf, vermischte ihre Buchstaben mit seinen. Probierte jeden Klang. Ich las sie später und liebte sie. Ich sammelte sie und legte sie in eine Schachtel.

Sam blieb stumm, wenn er nichts sagen wollte. Seine Mutter streichelte ihm über seinen Kopf, sie redete von ihrem Fehler. Die Vergangenheit war wieder lebendig, wenn sie redete. Sie wollte nicht aufhören und fing immer wieder davon an. Ich wollte Sam die Ohren zuhalten, aber er war wieder wie unsichtbar. Er verschwand unter der Berührung seiner Mutter.

Sam hasste es. Die Geschichten ohne Inhalt. Ihr Mitleid, ihre Entschuldigungen. Er hasste sie. Er hasste es, wenn sie redete. Ihre zittrige Stimme, ihr Luftholen, ihr erstes Wort am Tag. Er hasste auch ihr Letztes.

Aber Sam blieb stumm, wenn er nichts sagen wollte.

Einmal, da sagte er was. An dem Tag, an dem er alles verlor. Ich fand ihn im Hausflur auf dem Fußboden. Sein Gesicht blutete und er weinte. Ich hatte ihn weinen gehört. Er wollte nicht aufstehen. Er wollte gar nicht mehr aufstehen. Er wollte nie wieder aufstehen. Ich setzte mich neben Sam, sah ihn zum ersten Mal und sah ihn bluten. Er sprach undeutlich, unterbrochen und abgehackt. „Ich lebe nicht. Mein Vater hat mich umgebracht."

Ich musste ihm sagen, dass er falsch lag und er weinte. Dann habe ich meine ersten Worte gesagt: „Er ist nicht deine Vater." Ich weiß heute nicht, ob er froh darüber war oder nicht. Ich wagte es nie zu fragen, bis es zu spät war. Ich blieb bei Sam bis seine Mutter kam. Sah zu, wie sie ihn in ihre Arme schloss und weinte, als ob er gestorben wäre.

Ich blieb die ganze Zeit, obwohl niemand mir Aufmerksamkeit schenkte. Ich war da.

Sam sagte nichts mehr an diesem Tag. Und auch am nächsten nicht.

SAM  (#deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt