Zwei Wochen und dies war das erste Mal, dass ich ihm wieder über den Weg lief. Er stand in einer Gruppe, lehnte lässig an seinem Spind und erzählte angeregt irgendeine Geschichte, während die anderen gespannt lauschten. Er war der Mittelpunkt, jeder hörte ihm zu. Er war wichtig.
"Wen starrst du an?", fragte Jimin und ich zuckte erschrocken zusammen.
"Was machst du denn schon wieder hier?", gab ich sofort wieder zickig zurück.
Meine Schwester versuchte zu erkennen, zu wem ich schaute und schnell drehte ich mich von ihm weg um ihr keine Hinweise zu geben. Doch sie hatte ihn bereits entdeckt, wie solle man auch nicht? Park Chanyeol war wohl der auffälligste Mensch auf dieser Welt, ob es sein Aussehen oder sein Charakter war. Park Chanyeol war ein Mensch, mit dem man befreundet sein wollte.
"Du hast mir immer noch nicht erzählt, weshalb Chanyeol-ah und du euch getroffen hattet", sagte sie leise.
Ich tat so, als würde ich etwas in meinem Spind suchen und gab keine Antwort. Was sollte ich ihr euch erzählen? Dass ich ihn nur benutzt hatte um aus der Situation zu entfliehen? Das würde sie mir mehr als übel nehmen, auch wenn es die Wahrheit war.
"Hast du auch andere Freunde?", fragte Jimin und lehnte sich an den Spind neben meinem. Hatte sie etwa vor länger zu bleiben? Ich hatte keine Lust auf ihre neugierige Art.
"Ich bin nicht mit ihm befreundet", antwortete ich und schlug die Tür meines Spindes zu, was sie zusammen zucken ließ.
"Und wieso hattet ihr euch dann in der Bibliothek verabredet? Magst du ihn? Ich habe gehört, dass er sehr beliebt bei Mädchen ist, obwohl er eine-"
"Hast du vor mich die ganze Zeit mit deinem Geschwätz zu nerven? Ich hatte Sunbae-nim in der Bibliothek getroffen, weil er vorgeschlagen hatte mir das Einordnungssystem zu erklären. Ich mag ihn nicht, ich bin nicht mit ihm befreundet, ich kenne ihn nicht einmal. Und jetzt lass mich in Ruhe!", tischte ihr meine Lüge auf um endlich in Ruhe gelassen zu werden.
Sie seufzte über meine gereizte Antwort und brachte sich in einen graden Stand um mir zu folgen. Wir hatten Mittagspause und ich hatte vorgehabt etwas in der Kantine zu essen, doch das würde nichts werden, wenn ich meine Schwester im Schlepptau hatte. Wieso rannte sie mir aber auch die ganze Zeit hinterher? Das würde eine weniger friedliche Mittagspause werden...
Ich lief extra ein paar Umwege zur Kantine, in der Hoffnung sie abzuhängen, doch sie ließ nicht locker. Irgendwann betrat ich bereits mit knurrendem Magen die Kantine und auch wenn das Essen nicht sonderlich appetitlich aussah, kaufte ich es mir. Ich hatte meinen Lunch vergessen, mir blieb also nichts anderes übrig.
Jimin bestellte noch einen Obstsalat, während ich mit dem beladenen Tablett in der Hand nach einem freien Tisch suchte, an dem nicht zu viele Leute saßen. Ich entdeckte einen, an dem nur eine relativ wortkarge Schülerin saß, die ich aus meinem Englischkurs kannte. Mit der würde ich zurecht kommen.
Ohne auf meine Schwester zu warten, steuerte ich auf den Tisch zu und schlängelte mich an den anderen vorbei, als ich plötzlich von der Seite angesprochen wurde.
"Hallo, Alice-ya", sagte Park Chanyeol und grinste mir entgegen.
Ich drehte mich zu ihm um, er schaute mich mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck an, eine Lunch Box vor ihm ausgebreitet.
"Hallo, Sunbae", sagte ich leise, als seine Freunde ihre Gespräche unterbrachen und mich neugierig anschauten. Sie alle waren eine Stufe über mir.
Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als er plötzlich ein bisschen zur Seite rutschte und auf den Platz neben sich klopfte. Ich machte große Augen.
"Setz dich doch zu uns."
"Nein", gab ich sofort zur Antwort und ging ein paar Schritte, das leise Gelächter seiner Freunde erklang hinter mir.
Doch dann erblickte ich Jimin, wie sie mit einem befüllten Tablett und strahlenden Augen auf mich zu kam. Es erinnerte ein bisschen an ein Déjavu, denn sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und rettete mich auf den freien Platz neben den älteren Schüler. Es hatte schon einmal geklappt, vielleicht klappte es auch ein zweites Mal. Vielleicht könnte der Ältere mich mal wieder vor meiner nervigen Schwester beschützen.
"Umentschieden?", fragte er lächelnd und ich nickte schnell. "Wie geht's dir? Geht es deinen Knien besser?"
"Dass ich mich zu dir gesetzt habe, heißt nicht, dass ich Interesse an einem Gespräch habe, Sunbae. Ihr redet, ich esse. Deal?"
Erneut lachten die anderen am Tisch und Chanyeol kratzte sich am Hinterkopf.
"Genauso zickig wie vor zwei Wochen", stellte er lachend fest.
"Ich bin nicht zickig."
Und dabei beließ er es. Vorerst. Ich hatte gerade einmal ein paar Happen gegessen, als er auf mich zeigte und mich den anderen am Tisch vorstellte.
"Das ist übrigens Alice."
"Das ist nicht mein richtiger Name, er nennt mich bloß so", murmelte ich zur Erklärung und warf dem großen Jungen fuchsige Blicke zu.
"Weil sie mir nicht ihren echten Namen sagen will. Und solange heißt sie Alice", meinte er und begann dann die Namen der Anwesenden aufzuzählen.
Es interessierte mich nicht, wie seine Freunde hießen und so tat ich bloß so, als würde ich zuhören. Wieso stellte er mir überhaupt seine Freunde vor?
"Und das hier ist-", sagte er gerade und deutete auf den Letzten, der genau gegenüber von uns saß.
"Wir kennen uns schon", unterbrach sein Freund ihn und ich hob überrascht den Kopf.
Wir kannten uns? Ich musterte sein Gesicht und ja, es kam mir bekannt vor. Aber woher bloß? Angestrengt dachte ich nach, doch ich konnte nicht einmal mehr seinen Namen erinnern.
"Ihr kennt euch?", fragte Chanyeol genauso verwirrt.
"Wir waren auf der selben Mittelschule. Deine Freundin stand auf mich und du hast ihren Liebesbrief überbracht", meinte er grinsend und meine verwirrte Miene verwandelte sich in eine ausdruckslose. Ich kannte ihn tatsächlich.
"Byun Baekhyun."
"Richtig", sagte er stolz. "Wie geht es deiner Freundin?"
Ich schnaubte.
"Dank dir sind wir nicht mehr befreundet. Sie gab mir die Schuld, dass du sie nicht mochtest und sie hat nie wieder mit mir geredet. Und damit hatte ich die einzige Freundin verloren, die ich jemals hatte. Aber schön dich wiederzusehen", sagte ich sarkastisch und mit einem spitzen Unterton.
Er sah ziemlich erschrocken aus, aber die Wahrheit musste nun mal gesagt werden. Ich hatte ein Talent dafür, Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich war jahrelang wütend auf den hübschen Jungen gewesen, da war es doch berechtigt, dass ich es ihm sagte, nicht wahr?
Die Stimmung war jedenfalls ruiniert, keiner redete mehr am Tisch und Chanyeols Blicke flogen nervös hin und her. Wow, jetzt bemitleideten sie mich. Wie ich das hasste. Genau das war der Grund, weshalb ich nicht gerne mit anderen Menschen zusammen war.
"Oh... Das tut mir Leid", murmelte Byun Baekhyun.
"Schon gut, Sunbae. Ich habe es überlebt", sagte ich leise um ihn wenigstens ein bisschen besser fühlen zu lassen.
Alle aßen still, bis Chanyeol wieder das Wort ergriff. Er startete das Gespräch mit einen der Jungen, fragte ihn etwas über den Kurs und irgendwelche Hausaufgaben, was die verklemmte Stimmung wieder hob und auch die anderen begannen wieder sich zu unterhalten. Baekhyun schaute mich nicht an, er fühlte sich wohl immer noch schuldig. Selber Schuld.
Ich wurde erstaunlich lange in Ruhe gelassen, aß in Ruhe auf und blickte dann nur noch auf meine Hände nieder. Dann startete der große Junge aus der Bibliothek einen letzten Versuch sich mit mir zu unterhalten und das beeindruckte mich. Die meisten gaben mich bereits nach dem ersten Stimmungskiller auf, doch er schien wirklich bemüht.
"Hast du dein Buch schon durchgelesen?", fragte er und zeigte beim Lächeln seine Zähne.
"Nein, so gut ist mein Englisch auch wieder nicht", murmelte ich zur Antwort, bewusst etwas freundlicher für seine Bemühungen.
"Du liest Bücher auf englisch?", fragte jemand am Tisch, doch ich hatte seinen Namen bereits wieder vergessen.
"Ich gebe mein bestes."
"Das ist cool. Mein Englisch ist total schlecht, ich könnte nie ein Buch in einer anderen Sprache lesen. Ich scheitere meistens schon an meinen Mandarin Hausaufgaben...", meinte er und strahlte mich über den Tisch an.
Er war von der Art ein wenig wie Chanyeol, doch war er kleiner und mit nach oben gebogenen Mundwinkel. Und er trug Ohrpins.
"Ich bin genauso schlecht in Sprachen", murmelte Baekhyun.
"Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Deshalb fällt es mir wahrscheinlich leichter", sagte ich leise, weckte aber die Aufmerksamkeit der anderen. "Mein Vater ist Chinese, meine Mutter Koreanerin."
"Sprichst du beides fließend?", fragte Chanyeol neugierig.
"Nein, aber meine Schwester spricht fließend Mandarin."
Chanyeol hob die Augenbrauen, als würde er sich an die Szene in der Bücherei erinnern. An unsere Flucht vor Jimin. Doch er sagte nichts und ich war ihm mehr als dankbar, denn ich wollte nicht am Tisch erzählen, wie er und ich uns kennen gelernt hatten.
"Deine Schwester ist nicht zufällig Oh Jimin?", fragte Baekhyun plötzlich mit einem nachdenklichen Blick.
Wie hatte er das erraten? Wir sahen uns absolut nicht ähnlich und ich mied es mit ihr gesehen zu werden.
"Woher weißt du das?"
"Sie starrt die ganze Zeit rüber und scheint sich nicht sicher zu sein, ob sie kommen soll oder nicht..."
Ich drehte den Kopf und entdeckte meine Schwester an einem leeren Tisch, ihren Obstsalat vor sich stehend. Nicht angerührt. Sie blickte zu uns rüber, biss sich nachdenklich auf der Unterlippe herum und schaute schnell weg, als sie merkte, dass wir herüber sahen.
"Dann wissen wir immer hin schon mal deinen Nachnamen, wir machen Fortschritte. Oh Alice", verkündete Chanyeol und seine Freunde lachten über den Witz, während ich weiter zu meiner Schwester blickte.
Vielleicht war es doch falsch gewesen, sie einfach sitzen zu lassen. Sie so völlig alleine sitzen zu sehen, löste nun doch ein schlechtes Gewissen in mir aus. Und ich hatte normalerweise nie ein schlechtes Gewissen. Und schon gar nicht gegenüber meiner Schwester.
"Frag sie doch, ob sie herkommen und mit uns sitzen will", bot der Junge mit den hochgezogenen Mundwinkeln an. Wieso hatte ich bloß nicht mit den Namen aufgepasst?
"Ich glaube nicht, dass sie das will", murmelte ich.
"Sind wir so schlimm?", fragte Baekhyun gespielt beleidigt.
"Nein. Aber normalerweise redet sie nicht viel mit Jungs."
"War das gerade ein Kompliment, Alice-ya?", fragte Chanyeol grinsend.
"Da hast du dich wohl verhört."
Er lächelte trotzdem weiter und ich konnte mich gar nicht daran satt sehen. Park Chanyeol hatte einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Wie konnte man so viel positive Energie ausstrahlen? Wie konnte man so viele Emotionen mit anderen teilen? Neben ihm fühlte ich mich wie ein emotionsloser Stein. Und dazu war er noch süß.
Stopp. Fand ich ihn wirklich süß? Hatte ich das gerade wirklich gedacht?! Doch ich konnte es nicht leugnen: Park Chanyeol war viel zu groß, war schlaksig, hatte Segelohren und ein riesiges Grinsen. Und doch war er süß. Durfte ich so überhaupt über einen älteren Schüler denken? Durfte ich einen älteren Schüler 'süß' nennen?
Baekhyun winkte meiner Schwester zu. Er bat sie mit einem Handzeichen sich zu der Gruppe zu setzen. Ich erwartete nicht, dass sie sich tatsächlich dazu durchringen würde und ihren Obstsalat nahm um sich zu uns zu setzen.
"Hallo, Jimin-sshi", sagte Baekhyun freundlich und machte ihr Platz, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Und mir genau gegenüber.
Schüchtern ließ sie sich neben ihm nieder und stellte ihren ungeöffneten Salat ab. Jimin war eigentlich mehr als gesprächig, laut und lustig drauf, doch wenn Jungen anwesend waren, wurde sie still und zurückhaltend. Und es war überraschend wohltuend sie nicht die ganze Zeit reden zu hören.
"Hallo", sagte sie leise und lächelte schüchtern.
"Ich hätte da eine Frage: Deine Schwester meinte, du sprichst fließend Mandarin, stimmt das?", fragte Baekhyun grinsend. Was hatte er vor?
"Wieso sollte ich lügen?", giftete ich ihn an, doch er quittierte das nur mit einem Lächeln.
Er und Chanyeol waren seltsam. Wenn ich so mit anderen redete, empfanden sie mich als unfreundlich und unangemessen, doch die zwei Jungs hielten es eher für amüsant. Sie nahmen es nicht ernst, ich konnte ehrlich sein. Das war... Erfrischend.
"Ja, das stimmt."
"Was hast du in Englisch?", fragte der Junge mit den gehobenen Mundwinkeln.
"Volle Punktzahl."
Das hatte ich auch, auch wenn ich eine Stufe unter ihnen war. Wieso fragten sie sie solche Sachen? Ich hatte ein ungutes Gefühl.
"Tatsächlich? Bietest du zufällig Nachhilfe an?"
Na super. Das konnte nicht deren Ernst sein. Fragten sie Jimin gerade nach Nachhilfe?
"Eigentlich nicht..."
"Wir würden dich auch bezahlen. Jongdae-ya und Chanyeol-ah sind genauso mies wie ich in Fremdsprachen. Dann hättest du drei Schüler! Was hältst du davon?"
Jimin blickte mich kurz fragend an und ich schaute verständnislos zurück. Was hatte ich bitte mit der Sache zu tun? Ich wusste nicht einmal, was für Stoff sie durchnahmen, ich würde keine große Hilfe sein. Außerdem wollte ich überhaupt gar niemanden Nachhilfe geben.
"Einmal die Woche, vielleicht am Wochenende?", fragte Chanyeol, denn auch er schien begeistert von der Idee.
"Ja... Ja, wieso nicht?"
"Sehr gut! Wollen wir diesen Samstag schon gleich abmachen?", frage der dritte Junge, Jongdae.
"Ich habe Samstag noch Gesangsunterricht. Aber Sonntag würde mir passen", bot sie an. "Da hast du doch auch Zeit, nicht wahr?"
Sie blickte mich an. Nicht ihr Ernst. Sie wollte mich da einspannen?
"Das kannst du vergessen."
"Wieso nicht, zu zweit ist das doch viel leichter. Und dein Englisch ist mindestens genauso gut wie meins."
Die Anderen blickten mich interessiert an.
"Ich habe aber keine Lust."
Und damit erhob ich mich, nahm mein leeres Tablett und packte meine Sachen zusammen.
"Auf Wiedersehen, Sunbae. Bis später, Unnie", sagte ich in die Runde und machte mich schnell vom Acker, bevor sie mich in ihre komischen Ideen einspannen konnte.
Ich hatte vorerst mal wieder genug von ihr.
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I just call you Alice [Park Chanyeol]
Фанфик~"Verrätst du mir jetzt deinen Namen?", fragte er. "Nein. Du kannst gehen." "Ich glaube, ich nenne dich Alice", murmelte er plötzlich und zeigte auf das Buch, das ich noch immer mit mir herum trug. "Sie ist schließlich auch gefallen, als ihr Abenteu...