Kapitel 5

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Ethan

»Darf ich dich fragen, was mit deinem Vater passiert ist?«

Ihre sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Die vielen Fotos anzuschauen, hatte alte Narben wieder aufgerissen. Ich war nie ganz darüber hinweggekommen, dass ich meinen Vater nicht kannte, dass ich ihm so egal war, dass er nicht einmal probiert hatte Kontakt zu mir aufzunehmen. Vor allem die Bilder von meinem Bruder zu sehen, der mit seinem Vater, dem neuen Mann meiner Mutter, all die Dinge tat, die ich nie mit meinem getan habe. Zwar probierte Christoph mir eine Art Ersatzvater zu sein und wir verbrachten manchmal echt eine tolle Zeit miteinander, doch er war nicht mein eigenes Fleisch und Blut. Meine Mutter hatte ihn vor neun Jahren kennengelernt, als ich gerade acht geworden war. Sie hatte mir immer von ihm vorgeschwärmt und irgendwann hatte sie mir dann verkündet, dass wir zu ihm ziehen würden. Sein Haus, in welchem wir immer noch lebten, war ziemlich groß und ich hatte mein eigenes Zimmer bekommen. Im Keller gab es sogar einen kleinen Fitnessraum und eine Sauna, welches ich benutzte, wenn ich nicht im Studio trainieren ging. Am Anfang hatte ich es genossen, dass Christoph so nett und liebevoll zu mir war. Der kleine Achtjährige Ethan hatte die naive Hoffnung gehabt, dass er irgendwann zu seinem Vater werden würde, doch dann hatte meine Mutter uns verkündet, dass sie schwanger sei. Da war meine Welt, die für die kurze Zeit eines Jahres, wunderschön und vollständig gewesen war, zusammengebrochen. Zwar hatte ich mich darüber gefreut, endlich ein kleines Geschwisterchen zu bekommen, doch mir war auch klar gewesen, dass dieses das leibliche Kind von Christoph sein würde. Ich hatte damals panische Angst gehabt, dass er mich nicht mehr mögen würde, sobald das Baby geboren worden war. Das war zum Glück nicht der Fall gewesen, doch man merkte bis heute, dass Max und er eine viel tiefergehende und liebevollere Bindung zueinander hatten, als wir sie hatten.

Ich sollte nicht eifersüchtig auf meinen kleinen Bruder sein, weil er einen Vater hatte und ich nicht, doch manchmal, an richtig schlechten Tagen, war ich es. Dann war ich wieder der kleine, fünfjährige Junge, der jeden Abend stundenlang am Fenster gesessen hatte, die Straße vor dem Haus, in der sich unsere Wohnung befunden hatte, beobachtet hatte, in der Hoffnung, dass sein Vater endlich heimkam. Damals hatte ich mir eingeredet, dass er ein super Spion bei der Polizei war und deshalb untergetaucht war, eines Tages jedoch zurück zu seiner Familie, seinem Sohn, kommen würde. Vergeblichste. Als ich sieben wurde, hatte ich damit aufgehört aus dem Fenster zu starren und mit zwölf hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, dass er jemals kommen würde.

Ihre Frage überraschte mich, obwohl ich eigentlich damit gerechnet hatte, dass sie sie stellen würde. Normalerweise redete ich mit niemanden, außer Manuel, über meinen Vater, doch ich sah ein, dass das relevant für unser Projekt war und ich deshalb wohl in die saure Zitrone beißen musste.

»Er ist vor meiner Geburt abgehauen. Ich habe ihn nie kennengelernt.«

Ich probierte diese zwei Sätze so kühl und emotionslos zu sagen, wie nur irgendwie möglich, da ich nicht wollte, dass sie wusste, dass es mir nach fast achtzehn Jahren immer noch weh tat, darüber zu sprechen.

»Das tut mir leid.«

Sie klang so aufrichtig, dass es mich verwunderte. Es war die Standardantwort, falls ich doch mal jemand anderem davon erzählte und ich wusste, dass alle es nur so daher sagten. Doch bei ihr war ich mir sicher, dass sie es auch zu einhundert Prozent so meinte. Ich suchte ihren Blick und verlor mich für einen winzigen Augenblick in ihre wunderschönen, grün-grauen Augen.

Verdammt! Konzentriere dich Junge! Du kannst dich in den Augen von jeder anderen verlieren, nur nicht in ihren! Sie ist nicht dein Typ! Hast du das bereits vergessen?

Aber sie ist so süß...

»Danke«, ich nickte vage mit dem Kopf und lächelte sie an.

»Das muss doch bestimmt manchmal schwierig gewesen sein oder?«

Be Honest #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt