Kapitel 4

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»Wir müssen meinen kleinen Bruder noch von der Schule abholen. Meine Mutter ist auf der Arbeit«

Ethan riss mich aus meinen Gedanken raus, als er zu mir stieß. Seit geschlagenen zehn Minuten wartete ich am Schultor auf ihn, sowie wir es heute Morgen ausgemacht hatten. Wie sich herausgestellte hatte, beziehungsweise, wie sich für ihn herausgestellt hatte, hatten wir beide neben Biologie auch noch Sport zusammen. Dort hatte er mich kurz beiseite genommen gehabt, um mir zu sagen, wo ich nach der Schule auf ihn warten sollte. Dann war er zu seinen Freunden abgezischt und zu dem Haufen an Mädchen, die ihn regelmäßig umlagerten. Einige von ihnen hatten mir verwirrte, abschätzende Blicke zugeworfen. Doch nach weniger als drei Sekunden hatten alle das Interesse an mir verloren, da es wohl klar war, dass ich in meiner zwei bis drei Nummern zu großen Jogginghose und meinem Langarmshirt keine Gefahr für sie darstellte.

»Okay, kein Problem«, erwiderte ich und schloss zu ihm auf, da er es nicht für nötig gehalten hatte stehen zu bleiben. Er machte so große Schritte, dass ich fast hinter ihm her rennen musste, was mich ziemlich ankotzte. Kaum ein paar Minuten später war ich außer Atem.

»Könntest du etwas langsamer gehen?«, schnaufte ich. Der Sport heute Morgen hatte mir gereicht.

Er blickte sich zu mir um und blieb tatsächlich stehen.

»Sorry«, er machte einen zerknirschten Gesichtsausdruck. »Wir müssen uns nur ein wenig beeilen, damit wir rechtzeitig an seiner Schule sind. Max mag es nicht, wenn keiner auf ihn wartet, wenn die Schule schon zu Ende ist.«

»Wie alt ist er?«, gemeinsam setzten wir uns wieder in Bewegung.

»Er ist gerade sechs geworden. Der Jüngste in seiner Klasse.«

An seiner Stimme konnte ich hören, wie stolz er auf ihn war und wie sehr er ihn liebte. Kurz durchfuhr mich ein Stich der Eifersucht. Dennis hatte noch nie so über mich geredet. Er hatte mich sicherlich auch nicht lieb.

Zum Glück erlangte ich schnell meine Fassung wieder, ohne, dass Ethan etwas davon mitbekommen hatte.

»Das heißt, er ist dieses Jahr eingeschult worden?«

»Ja«, ein breites Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Er war ganz aufgeregt, ist es eigentlich immer noch jeden Tag.«

Als sein Lächeln noch breiter wurde, fiel mir das kleine Grübchen über einem linken Mundwinkel auf. Irgendwie machte es ihn noch attraktiver.

Reiß dich zusammen! Es ist immer noch Ethan Summers. Ein absoluter Arsch!

»Süß«

»Hast du auch Geschwister?«, er blickte mich an.

»Ja, einen großen Bruder«, ich lächelte verkniffen und hoffte, dass man nicht hören konnte, wie sehr ich es hasste über ihn zu reden, allein nur an ihn zu denken.

»Cool«, er nickte mit dem Kopf und blieb dann vor einer relativ großen Gruppe an Menschen stehen. Leicht verwirrt stoppte ich auch, bis mir auffiel, dass wir an einer Bushaltestelle standen. Mein Herz sank mir in die Hosen.

»Wir nehmen den Bus?«

Meine Stimme klang so verzweifelt, wie ich mich fühlte. War ja klar gewesen, dass es sofort zu Komplikationen meinetwegen kommen würde.

»Ja, was dagegen?«, er zog eine seiner perfekten Augenbrauen hoch und musterte mich. Auf einmal fühlte ich mich ganz nackt und mein Selbstbewusstsein sank Schritt für Schritt. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich nicht mit dem Bus fahren konnte? Selbst wenn mir die riesige Menschenmasse nichts ausmachen würde, ich konnte es mir nicht leisten. Zwar hatte ich das Geld, das mein Bruder mir zum Einkaufen gegeben hatte, doch ich musste ihm immer den Kassenzettel mitbringen, sodass er sicher gehen konnte, dass ich sein Geld nicht behielt oder für unnütze Sachen ausgab. Zugegeben, hatte ich eigenes Geld auf der Bank, doch das war für mein Leben, sobald ich achtzehn war. Dafür brauchte ich jeden Penny, den ich kriegen konnte, weshalb ich nur in absoluten Notfällen etwas abhob. Zum Glück wusste ich, dass meine Eltern mir auch noch etwas geerbt hatten und ich dieses Geld bekommen würde, wenn ich volljährig war, doch ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Und Bus fahren war sicherlich kein Notfall, für den es angebracht war, Geld abheben zu gehen.

Be Honest #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt