Vergessen

5.2K 383 22
                                    

"Ich will dich gerade irgendwie nicht loslassen." flüstere ich.
Er legt seine Hand auf meinen Hinterkopf und flüstert zurück: "Dann mach es auch nicht."
Ich glaube, mein Herz ist an eine andere Stelle gerutscht. Wie macht er das bloß?
Ich rieche mich in seine Jacke. Sie riecht vollkommen nach ihm. Kein Alkohol, kein Zigarettenrauch. Ich muss lächeln. Ich wette, ganz tief drin ist er ein richtiges Mauerblümchen.
Meine Augen fallen zu, mein Körper wird schwer. Ich unternehme nichts dagegen. Denn ich vertraue Eijun voll und ganz. Ich weiß einfach, dass er mich festhält. Physisch, so wie psychisch.
Ein schrilles Klingeln zerstört die Idylle. Nicht nur wir beide erschrecken, sondern auch ein paar Tauben, die es sich auf der Überdachung gemütlich gemacht haben, fliegen fort.
Ich lasse Eijun los und nehme den eingehenden Anruf auf meinem Handy an, ohne auf das Display zu schauen. Etwa meine Mutter?
"Ajou, ich rufe jetzt die Polizei an!"
Scheiße!
"Nein, nein! Frau Whelan, ich habe Ihren Neffen gefunden, beruhigen Sie sich bitte!" rufe ich ins Mikrofon.
Eijun schaut mich schockiert fragend an.
Ich kann ein erleichtertes Weinen am anderen Ende der Leitung feststellen.
"Ohh Ajou! Wie-wieso hast du mich denn nicht angerufen?" schluchzt sie lachend.
"Entschuldigung, ich habe das vollkommen vergessen. Ich begleite ihn gleich heim." antworte ich.
"Ich bin ja so heilfroh, ich danke dir von ganzem Herzen, Ajou! Danke!"
"Keine Ursache, ich habe mir ja auch Sorgen um Eijun gemacht."
Aus den Augenwinkeln sehe ich Eijun, der lächelnd den Boden anschaut. Ich muss ja wieder rot werden und schaue schnell weg.
"Bis gleich, Frau Whelan" entgegne ich noch und lege dann auf.
Eijun schaut mich an und meint: "Diese Frau macht sich viel zu schnell Sorgen."
"Sorgen zu haben ist halt auch eine Art, seine Liebe zu zeigen." sage ich und stecke mein Handy zurück in meine Hosentasche.
Er schaut mich wieder mit seinem langen eindringlichen Blick an.
"Lass uns jetzt gehen, es ist schon recht spät." bestimmt ich, um eine unangenehme Stille zu vermeiden.
Eijun zieht die Schultern hoch, steckt die Hände in die Hosentaschen, schaut auf den Boden und grinst schelmisch.
"Aye Aye, Captain."
Er hebt wieder den Kopf und sieht mich an. Sein Grinsen hat sich in ein geheimnisvolles Lächeln verwandelt.
Ich drehe mich schnell um und gehe voran. Diesem Blick kann ich jetzt wirklich nicht Stand halten.
Er folgt mir nach einer nicht langen Zeit und irgendwie habe ich das Gefühl, dass zu dieser Tageszeit wohl eher er der Beschützer ist.
Und das beweist sich auch.
Wir sind mittlerweile in der Innenstadt angekommen und brauchen nicht mehr lange zu den Whelans, da kommen uns drei Jungs, etwas älter als wir, entgegen.
"Ey Eijun" flüstere ich "Wollen wir die Straßenseite wechseln?"
Er schüttelt bloß leicht und unbeeindruckt den Kopf.
Oh Mann. Ich sollte einfach nur ruhig ein- und ausatmen. Sicherlich mache ich mir unnötig Sorgen.
"Aus dem Weg." zischt einer der drei, als sie vor uns stehen.
Ich gehorche und setze schon einen Fuß auf die Straße, doch Eijuns Hand hält mich am Kragen fest und zieht mich wieder auf den Gehweg. Und das alles, ohne mich angesehen zu haben.
"Ich sehe keinen Grund dazu. Wie wäre es, wenn wir alle ein wenig unsere gebrechliche Hüfte drehen und im Gänsemarsch laufen?" sagt Eijun bloß ruhig.
Er kassiert bloß Lacher.
"Hältst dich wohl für was besseres, dummer Hurensohn. Verpiss dich einfach." sagt der Größte von allen. Er ist etwas größer als Eijun.
"Meine Mutter ist keine Hure. Achte auf deine Ausdrucksweise."
Eijun lässt sich wie immer nicht aus der Ruhe bringen. Und ich kann wie immer nichts machen, außer wie angewurzelt dazustehen. Ich hasse mich manchmal so sehr, es ist nicht mehr witzig.
Der dritte legt eine Faust in die andere und knackst furchteinflößend seine Knöchel.
"Da ihr nichts mehr von euch gebt, würde ich sagen, wir realisieren meinen Vorschlag, na?" sagt Eijun und streckt seine Arme seitlich von seinem Körper weg.
"Du gehst mir echt auf die Eier, weißt du das?!" ruft der Größte und holt aus.
"EIJUN" platzt es endlich aus mir heraus. Doch mehr kann ich auch nicht tun. Vor allem, weil Eijun blitzschnell das auf ihn zurasende Handgelenk schnappt und dieses dreht.
"Ich kann euch alle auf den Boden schmeißen und mein Freund und ich laufen über euch Wichser drüber." keift Eijun und blitzt die anderen zwei gefährlich an.
"Sch-schon gut. War nur Spaß... Sind etwas angetrunken." meint einer leise und zieht den Chef der Bande von Eijun weg.
"Dann verzieht euch und macht nicht 'n Eindruck, als würdet ihr nach 'ner Knastzelle betteln!" faucht Eijun und schon drücken sich die drei kleinlaut an uns vorbei.
Ich kann einfach nichts machen, als ihnen nachzusehen.
"Willst du dich mit ihnen anfreunden oder was schaust du denen so hinterher?" grinst er und steckt seine Hände wieder in die Hosentaschen.
"I-Ich... Eijun, du bist großartig!" presse ich hervor und schüttel ihn an den Schultern.
"Richtig professionell hast du die fertig gemacht! Einfach Wahnsinn!"
Ich bin so außer mir, ich falle ihm fast um den Hals. Aber es war so erwachsen, wie er gehandelt hat.
"Komm runter, Ajou" lacht er leicht und wenn ich mich nicht täusche, hat er eine leichte Röte angenommen.
"Lass jetzt einfach schnell heim." meint er und so machen wir es auch.

Der AustauschschülerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt