In dieser Nacht träumte ich von Stralsund. Es war viel mehr eine Erinnerung als ein Traum. In meinem Traum war es Abend, Nele und ich saßen zusammen mit David am Hafen. Wir hatten uns an den Rand einer Mole gesetzt, unsere Füßen schwebten knapp über der Wasseroberfläche. Neben uns, ragte riesengroß die Gorch Fock auf. Auf ihrer weißen Oberfläche spiegelte sich die langsam untergehende Sonne, verteilte goldene Lichtsprenkel auf dem Schiff, so wirkte das große Ungetüm, welches seit Jahren seinen Platz nicht verlassen hatte, federleicht. Ich stellte mir vor, es würde gleich Flügel bekommen und knapp über der Meeresoberfläche in den Sonnenuntergang schweben. Ich ließ meinen Blick übers Wasser gleiten, an diesem Abend war die Luft so klar, dass man Altefähr, welches auf der Insel Rügen lag klar und deutlich sehen konnte. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar ein paar der kleinen Segelschiffe ausmachen, die dort Anlagen und nun friedlich in den sanften Wellen hin und her wogen. »Hier.« David reichte mir die Weinflasche, die wir uns zuvor in der Kneipe zum goldenen Anker, der Bar gleich nebenan besorgt hatten. Für diesen Wein hatten wir unser letztes Geld zusammengeschmissen. So teuer er auch gewesen war, so scheußlich schmeckte er. Doch so schnell war er auch schon wieder auf die Hälfte geleert. Ich nahm einen großen Schluck, verzog, angesichts der grausigen Geschmacks das Gesicht und reichte ihn schweigend an Nele weiter.
»Ist es nicht merkwürdig?«, fragte sie. Dann sagte sie nichts mehr. Wir schauten sie einfach nur an und warteten, dass sie weitersprechen würde. Nele nahm einen Schluck ohne das Gesicht zu verziehen, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schüttelte anschließend ihr vom Wind zerzaustes Haar, sodass ihre wilden dunklen Locken noch wilder um ihr Gesicht hangen und sie dabei aussehen ließen wie einen dunklen Löwen. Ich mochte es, wenn sie so wild aussah. Normalerweise war Nele die ruhige von uns. Sie wurde nie laut, sie schrie nie jemanden an oder motzte über Ungerechtigkeiten. Sie lachte nicht einmal besonders laut. Aber ihre Haare konnten ihr eine einmalige Wildheit verleihen, »Naja, dass wir es so eilig haben von hier wegzukommen, während andere Menschen davon träumen am Meer zu wohnen.« David gab einen langen Seufzer von sich, dann bleib es lange still. wir hingen alle unseren Gedanken nach.
Man sagte, einen Sonnenuntergang am Meer zu beobachten sei das schönste, was man im Leben zu sehen bekommt. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige Sonnenuntergänge gesehen, doch dieser an diesem warmen Sommerabend, mit meinen besten Freunden und dem abscheulichsten Wein den ich je getrunken hatte war selbst für mich etwas ganz Besonderes. Heute würde ich nicht mehr sagen können, was diesen Abend so besonders gemacht hatte. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass ich ihn mit den Menschen verbringen durfte, die mir das liebste im Leben waren. Oder es lag an den Farben, die die Sonne an jenem Abend über dem Wasser ausbreitete. Zuerst sah es aus, als würde das Meer in Flammen stehen. Links und rechts spiegelte sich in Sonne in einem kräftigem gelb, in der Mitte, direkt unter der Sonne in einem knalligem Rot, welches von Sekunde zu Sekunde immer dunkler wurde und schließlich war das Meer wieder blau. Hellblau zu lila zu dunkelblau. Dann, kurz bevor das Meer die Sonne zu verschlucken schien, änderten sich die Farben noch einmal. Die Welt um uns herum schien schwarz, nur auf einem kleinen Teil auf dem Wasser, sah man einen, mit einer Intensität die ich noch nie zuvor beobachtet hatte, orangen Ball nach und nach immer weiter im Meer versank.
Als ich am darauffolgenden morgen erwachte, war mein Kissen tränennass. Diese nächtliche Erinnerung hatte sich direkt von meinem Kopf in mein Herz eingebrannt. Sich von Daus unaufhörlich als Regen durch meine Augen bis in mein Kissen und von dort zurück als brennender Schmerz in mein Herz gekämpft.
Ich schlug die Decke zurück, wischte mir grob mit der rechten Hand übers Gesicht, atmete ein paar Mal tief durch und schwor mir, diesen Tag, genau wie alle anderen hier, ohne noch mehr lästige Gefühle zu überstehen. Diese Erinnerung war eben nur das war sie war: Eine Erinnerung, eingebrannt in meinen Kopf. Und genau da sollte sie gefälligst auch bleiben. Nie wieder würde ich zulassen, dass sich solch eine Erinnerung aus den dunklen Tiefen meines Unterbewusstseins in meine Gefühlswelt schleichen würde. Ich war kaputt genug, da brauchte ich nicht noch mehr Grund zum Heulen.
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Vergib mir nicht
Teen Fiction»Die Dunkelheit hier hat Arme, die versuchen mich zu sich zu ziehen. Es gelingt ihr jede Nacht ein Stückchen mehr. Irgendwann werde ich mit ihr verschmelzen. Angst in meiner Seele, Regen in meinen Augen, in dem ich zu ertrinken drohe. Alles wegen...