»Ist dir jemals in den Sinn gekommen Hannah aufzugeben und nur Elis zu sein?« Ich verdrehte die Augen. Doktor Waggonor wollte vor meiner Entlassung unbedingt noch einmal mit mir reden, dass daraus gleich drei Stunden werden würden, konnte ich mir leider vorher nicht denken. Denn, wenn ich es gewusst hätte, wäre mir das packen meiner Sachen vermutlich viel schwerer gefallen und hätte mehrere Stunden in Anspruch genommen. Nun aber saß ich, neben einem Haufen Gepäck, meiner Therapeutin gegenüber und fühlte mich wie ein in Wasser getränkter Sack Mehl.
»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Früher war ich gern Hannah. Auch wenn ich sehr schüchtern war, kaum Freunde hatte und mein Leben niemals aus einem Bilderbuch stammen hätte können. Zeitweise war ich sogar richtig glücklich. Nicht dieses Vorgespielte glücklich sein, damit sich niemand Sorgen um einen macht. Ich war richtig glücklich.« Damals, an meinem letzten Tag mit Nele war ich zum letzten mal so glücklich, dass ich dachte, ich könnte alles tun. Aber das sagte ich Doktot Waggonor nicht. »Aber ich war auch gern Elis.« Ich lächelte. Meine Therapeutin legte die Stirn in Falten. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ich hatte zu dem Thema bisher immer geschwiegen oder drumherum geredet. Aber ihr gesagt, dass ich mich als Elis mochte, hatte ich noch nie. »Als du Elis warst, wusstest du dann noch, dass du Hannah bist, oder war Elis eine eigenständige Person?« Doktot Waggonor wirkte angespannt und ich wusste, wenn ich jetzt die falsche Antwort geben würde, würde sie mich nicht gehen lassen. Eigentlich hatte ich genau daraufhin gearbeitet. Hierzubleiben. Andererseits weckte die Aussicht auf Freiheit ein Gefühl in mir, welches ich schon seit Monaten nicht mehr gespürt hatte. Hoffnung. »Nein, ich war auch als Elis Hannah. Es ist etwas ganz anderes einen anderen Menschen zu spielen, als ein anderer zu sein.« Dabei ließ ich außer Acht, dass der Teil in mir, der Elis war, sehr wohl oft die Kontrolle über mich übernommen hatte. Elis hatte Dinge getan, die Hannah niemals getan hätte. Sie hatte Sätze gesagt, die Hannah nicht einmal zu denken vermochte. Aber Hannah als Elis war eben auch ungezwungener und Freier gewesen, als Hannah es allein jemals hätte sein können. Einfach weil ich es mich nie getraut hätte.
Ich stand auf, ging neben meiner großen dunklen Reisetasche in die Hocke und zog mir meine letzten beiden Zigaretten aus einer Seitentasche. Ich lege sie auf den Tisch genau in die Mitte zwischen Doktot Waggonor und mich. Schweigend legte sie ihren Stift beiseite, öffnete eine Schublade an ihrem Schreibtisch und reichte mir einen gläsernen Aschenbecher sowie ein schlichtes schwarzes Feuerzeug. Ich wusste, dass sie von mir keinen Dank erwartete, also stand ich schweigend auf, nahm den Aschenbecher, eine der beiden Zigaretten und das Feuerzeug und ging zu meinen Lieblingsplatz ans Fenster. Es war einen Spalt geöffnet wurden, kühle Luft strömte herein, gelang in meine Nase. Ich atmete tief ein. Ließ die kühle Luft in meine Lungen fließen. Das Atmen fiel mir so viel leichter.
Als ich mich wieder zu Doktor Waggonor umdrehte, fiel mir zum ersten Mal, seit ich hier war auf, wie gemütlich ihr Sprechzimmer war. Es roch ein bisschen nach alten Papier und Kaffee, die Wände waren von überfüllten Bücherregalen zugestellt. Der Schreibtisch, an dem meine Psychologin stets saß, war aus dunklen, massiven Holz und Bilder und Kerzen standen unsymmetrisch darauf verteilt. Auch ihr Sessel war dunkel und aus einem Material, welches aussah, als könnte es verdammt gemütlich sein. Auch der Sessel, in dem ich immer saß, war eigentlich niemals unbequem. Ich wusste es nur nie zu schätzen.
»Irgendwie wird es seltsam sein, nicht mehr jeden Tag hier abhängen zu müssen«, sagte ich, ließ mich zurück in meinen Sessel fallen und drückte meine mittlerweile aufgerauchte Zigarette in den Aschenbecher. Doktor Waggonor lächelte leicht und notierte sich etwas. »Wie bereits besprochen, werden wir uns von nun an, an zwei Tagen in der Woche Treffen und auch wenn es nicht in den Auflagen steht, bitte ich dich dein Tagebuch fortzusetzen.«
Ich brachte ein »Hmm« hervor. Eigentlich wollte ich dieses Tagebuch und somit meine Geschichte verbrennen, sobald ich aus der Anstalt entlassen wurde. Ich wollte wieder neu anfangen, aber mit diesem Tagebuch würde ich ständig an die Vergangenheit erinnert werden. »Ich dachte, ich dürfte endlich abschließen«, sagte ich so leise ich konnte, hoffte, dass Doktor Waggonor es nicht hören würde. Wie immer wurden meine Hoffungen im Keim erstickt. »Um abschließen zu können, musst du wissen Hannah, dass es wichtig ist, dass du dich von all den Gedanken lösen musst, die negativ in dir vorherrschen. Diese Geschichte, mit all seinen Erinnerungen hat eine Menge Negativität in dir angestaut. Und ich hoffe, wenn du deine Geschichte aufschreibst und somit beendest, du von dieser Negativität befreit wirst.« Wow, sie hätte auch gleich sagen können, dass sie mich noch immer für durchgeknallt und bösartig hält.
Bevor Doktor Waggonor mich aus dem Psychartrischen Bereich entließ, drückte sie mir noch zwei weitere leere Notizbücher in die Hand. »Ich bin mir sicher, dass in deinen Gedanken nicht so ein Schweigen herrscht, wie bei deinen Worten.« Damit ließ sie mich mit einem Sicherheitswachmann allein.
Es braucht jede Menge Papiere und noch mehr Zeit, bis man aus einer Anstalt in die Freiheit entlassen wird. Während ich darauf wartete, dass meine Entlassungspapiere unterzeichnet und abgestempelt wurden, saß ich in einem kleinen Raum, in dem sich nichts weiter befand als ein abgewetzter, alter Stuhl. Die Wände waren in Regenbogengrau gestrichen und wenn man genauer hinsah, konnte man Fratzen darin erkennen. So saß ich mehrere Stunden auf einem harten, unbequemen Stuhl und starrte die sich ständig veränderten Gesichter in den Wänden des Raumes an. Einmal kam mir der Gedanke, Doktor Waggonor einen Gefallen zu tun und an meinem Tagebuch weiterzuschreiben, doch so schnell er gekommen war, so schnell verwarf ich den Gedanke auch wieder. Mir war bewusst, dass ich an diesem Buch weiterschreiben würde, ich wusste auch, dass Doktor Waggonor Recht hatte, als sie sagte, dass ich mich durchs schreiben von meinen negativen Gedanken lösen könnte. Doch wenn ich jetzt daran dachte, wie meine Geschichte weitergehen würde, wollte ich doch lieber die negativen Gedanken behalten. Wenigstens noch eine kleine Weile.
Plötzlich flog die Tür auf und beißend grelles Licht drang aus dem Korridor in das graue Zimmer, welches sich zum Hinterhof richtete und somit mehr schlecht als Recht Tageslicht besaß. Die Mühe, mir Licht zu machen, hatten sie sich nicht gemacht. Ein anderer, bulligerer Sicherheitswachmann stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. »Hannah Winter, du kannst jetzt gehen.«
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Vergib mir nicht
Teen Fiction»Die Dunkelheit hier hat Arme, die versuchen mich zu sich zu ziehen. Es gelingt ihr jede Nacht ein Stückchen mehr. Irgendwann werde ich mit ihr verschmelzen. Angst in meiner Seele, Regen in meinen Augen, in dem ich zu ertrinken drohe. Alles wegen...